So wurde Deutschland für den Priester aus Nigeria eine zweite Heimat

Polycarp Okafor hat Recklinghausen gezeigt, wie Kirche funktioniert

Veröffentlicht am 13.01.2025 um 00:01 Uhr – Von Beate Kampen – Lesedauer: 
#KircheVorOrt

Recklinghausen ‐ Es brauchte Zeit, bis sich Polycarp Okafor in seinem neuen Zuhause einlebte. Doch nach Sprachbarrieren und Kulturschock kamen Freundschaft und Gemeinschaft. Das hat ihm geholfen, als Priester aus Nigeria in Deutschland Fuß zu fassen.

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Eine kräftige Männerstimme übertönt die leisen Singstimmen der Seniorinnen und Senioren. Unter dem weißen Priestergewand blitzen saubere Lederschuhe hervor. "Ich würde gerne in meiner Muttersprache Igbo singen", warnt der Priester schnell sein Publikum vor. Vor dem schmalen Betonaltar in der Kapelle des Altenheims St. Johannes in Recklinghausen steht Polycarp Okafor. Der Priester mit kurzem, krausem Haar breitet seine Arme aus und schaut in die Gesichter seiner 30 Gottesdienstbesucher. Anstelle von "Durch ihm und mit ihm und in ihm…" erklingen Wörter, die vermutlich niemand der Anwesenden versteht. Die Recklinghausener Senioren reagieren wenig überrascht. Sie kennen das schon. Seit sieben Jahren wohnt Okafor bereits im Stadtteil Suderwich, der für ihn trotz anfänglichem Kulturschock zu seiner zweiten Heimat geworden ist.  

Die Messe im Altenheim endet, wie jede seiner Messen, mit einer Frage. Okafor wird lockerer, sein während der Messe noch ernster Blick löst sich. Das Grinsen wird breiter. "Was gibt es noch?", überlegt er laut. Seine Standardfloskel. Er bedankt sich bei allen, die an diesem Gottesdienst teilgenommen haben. Jede einzelne Pflegekraft nennt er beim Namen und überrascht damit die Frauen, die in der letzten Reihe sitzen. Er überlegt, wann er wiederkommen werde, und lacht laut los, als ihm das Datum nicht einfällt. 

Bild: ©katholisch.de/bak

Im Altenheim St. Johannes feiert Polycarp Okafor regelmäßig Messe mit den Bewohnern.

Das Altenheim, in dem der Priester regelmäßig für die Messe vorbeikommt, liegt nur einen Katzensprung von seinem Zuhause entfernt. Einmal über die Straße und immer in Richtung der Kirchturmspitze ist er in wenigen Minuten da. Auf dem Weg sieht er eine Nachbarin und ruft laut ein Hallo über die Straße. Dann trifft er noch seinen Kollegen und Nachbarn, Pfarrer Wolfgang Stübbe, der gerade in seinem Vorgarten die Blumen schneidet. Auch hier hält er für einen kurzen Plausch. An die kleinen Wohnungen der beiden Priester schließt sich das Pfarrbüro an, wo er manchmal seine Predigten schreibt. Als seine Gemeinde hört, dass sich jemand für ihren Priester interessiert, haben sich hier einige eingefunden, um etwas über den 45-Jährigen zu erzählen.  

Man trifft sich auf Tee und Brötchen in der kleinen Pfarrbücherei. Hektisch schenkt Okafor heißes Wasser in die Teetassen seiner Gäste. Die vier Besucher beginnen von ihrem Priester zu schwärmen. “Überall ist er mit Herz und Seele dabei. Da ist nichts aufgesetzt”, versichert Schützenkönig Marus Rengel. “Er bringt das zurück, was allen anderen verloren gegangen ist”, sagt Anne Quinkenstein aus der Kolpingfamilie und schaut in das nickende Gesicht von Gemeinderatsmitglied Matthias Trachternach. “Polycarp ist so, wie wir uns Kirche vorstellen”, fasst Marc Perle aus der örtlichen Feuerwehr das Lob zusammen und lächelt Okafor an.  

Ein Geheimrezept, wie er sich so gut eingelebt hat, hat der Priester nicht. "Ich bin einfach, wie ich bin.” Damit scheint er gut anzukommen. “Ich frage mich selbst, was ich besonders mache", sagt Okafor und beginnt zu lachen. Für sein Lachen nimmt er sich Zeit. Es ist kein kurzer Schmunzler, sondern ein herzhaftes Lachen, das durch seine Länge und die Lautstärke auch alle anderen im Raum zum Schmunzeln bringt. 

Nach Recklinghausen zog ihn eigentlich nichts 

Die ersten 38 Jahre von Okafors Leben spielten sich weit entfernt vom nordrhein-westfälischem Recklinghausen ab. Mitten in der nigerianischen Großstadt Enugu wurde er schon mit elf Jahren auf eine Schule geschickt, die die Schüler auf das Priesteramt vorbereiten sollte. Anders als viele seiner Mitschüler fand er hier seine Berufung.  

Die Idee, Nigeria zu verlassen, kam nicht von Okafor selbst. Schon sein Bischof habe in Deutschland die Doktorarbeit geschrieben und gute Erfahrung gemacht. Deswegen schlug er seinem Schützling vor, an einer deutschen Universität zu promovieren. "Ich war schockiert", sagt Okafor auch heute noch vollkommen entrüstet. Er sprach zu dieser Zeit kein Wort Deutsch und wusste nicht, was ihn hier erwarten sollte. Nach etwas Bedenkzeit entschied er sich dann, an der Universität Münster zu promovieren. Bevor es nach Deutschland ging, gab ihm ein Kollege noch einen Rat: "Sei offen und flexibel". "Das ist gar nicht immer so einfach", gibt er heute zu. 

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Kulturschock, Sprachbarrieren und die kalten Winter prägten Okafors Beginn in Deutschland. Zumindest für eines der Probleme hatte er schnell eine Lösung: lange Unterhosen. Für Vokabeln, Grammatik und Betonung stand ihm ein Sprachbegleiter an der Seite. Auch nach sieben Jahren liest der immer noch jede Predigt vom ihm Korrektur. "Sicher ist sicher", lacht Okafor.  

In Kontakt mit neuen Menschen zu treten, scheint Okafor leicht zu fallen. "Ich hatte das Gefühl, dem kann ich mein ganzes Leben erzählen", beschreibt Anne Quinkenstein eine ihrer ersten Begegnungen mit dem Priester. Mittlerweile sei er als “rasender Pfarrer” weit über die Kirchengemeinde hinaus bekannt, sagt Marc Perle. Eine Autofahrt mit Polycarp”, das müsse man gemacht haben, um ihn richtig kennenzulernen. Lachend erzählt Perle, was er dabei erlebt habe. Eine CD mit englischem Rosenkranz laufe auf Dauerschleife. Der Tacho zeige deutlich mehr an als die erlaubten 50km/h, doch das störe ihn nicht. “Wir sind im Namen des Herren unterwegs” sei das Motto, mit dem sich Okafor durch die Kurven schneidet und sich von Termin zu Termin hangelt.  

Das macht er anders als die bisherigen Priester 

Okafors Engagement zeigt sich aber nicht nur in der Kirche. Auch im Schützenverein, in der Feuerwehr oder im Karnevalsverein war er anfangs gerne Gast, bis er auch aktives Mitglied wurde. "Normalerweise sind die Priester immer nur passive Mitglieder", berichtet Markus Rengel vom Schützenverein. Aber nur halb dabei zu sein, würde nicht zu Okafor passen. Nach der Schützenmesse wechsle er schnell vom Priesterkraken zur Schützenuniform und ziele sogar beim Königschießen auf den Vogel. Das freut Matthias Trachternach: “So bekommt man die Kirche präsent im Dorf”. 

In den Vereinen trifft Okafor, wie er sagt, auf Leute, die zusammenhalten und Gemeinschaft schätzen. "Ich gehöre zu diesen Menschen", fügt er hinzu und holt sein Handy für Beweise heraus. Er scrollt durch seine Galerie und zeigt ein Foto nach dem anderen. Stolz steht er Arm in Arm mit Freunden in seiner grünen Jacke auf dem Schützenplatz. Lachend hält er eine Rede auf der Bühne des Karnevalsvereins. 

Bild: ©privat

Vom Karnevalsverein erhielt Polycarp Okafor eine Auszeichnung als Senator.

Diese Kontakte sind ihm wichtig. Denn 5.000 Kilometer von der Heimat entfernt ist es für Okafor nicht immer einfach. Bis heute fehlt ihm in der deutschen Gesellschaft ein gewisses Gemeinschaftsgefühl, das er aus Nigeria kennt. “Nachbarn und Freunde sind dort immer füreinander da”, schwärmt er von seiner Heimat. Auf seinem Handy sucht er ein Video, um sein nigerianisches Zuhause zu zeigen. Schnell findet er einen Ausschnitt eines Gottesdienstes. Eng an eng stehen Männer und Frauen in den Kirchenbankreihen. Lautstark singen sie Lieder und bewegen sich im Takt der Musik.  

Diese Aufnahmen sind kaum mit deutschen Messen zu vergleichen. In der großen Kirche vor seiner Haustür feiert Okafor oft mit nur wenigen Leuten Gottesdienst. Dabei soll er jede Messe so feiern, als wäre es die erste und letzte in seinem Leben. Das habe er im Priesterseminar gelernt. Hier in Deutschland treffen seine Erfahrungen auf eine andere Realität. Er wird ruhiger und bedächtiger, wenn er darüber spricht. "Es ist wichtig, in die Kirche zu gehen, um seinen Glauben zu stärken." Das sieht ein Großteil seiner Gemeinde wohl anders.  

Auch in Deutschland engagiert er sich für sein Heimatland 

Sein Heimatland scheint ihm immer noch am Herzen zu liegen. Zusammen mit einem Pfarrer vor Ort engagiert er sich seit einigen Jahren für Kinder aus Amagunze, einem kleinen Dorf im Südosten Nigerias. Unterrichtet werden die Schülerinnen und Schüler aktuell noch in einem Kirchengebäude. Die Ausstattung sei dürftig, die Armut groß. Der Gedanke an die Situation der Kinder lässt Okafor leiser sprechen. Mit weit aufgerissenen Augen zählt er auf, was ihnen fehlt: “Viele haben nichts zu essen, bevor sie zur Schule gehen. Einige haben nicht mal Kleidung.” Bildung sei das Einzige, was ihnen die Chance auf ein besseres Leben gebe. Das letzte große Projekt war der Bau eines Toilettenhauses für die Schülerinnen und Schüler. Knapp 10.000 Euro hat Okafor mithilfe der Recklinghausener gesammelt. Über das Interesse seiner deutschen Gemeinde ist er überrascht.  

Bild: ©privat

Mithilfe von Spenden aus Deutschland konnten Rucksäcke für Schulkinder in Nigeria finanziert werden.

Okafor bringt neben seiner offenen Art und seinem Drang nach Gemeinschaft auch Einblicke in einen anderen Teil der Erde mit. Für ihn ist das wichtig, damit er seine Kultur inmitten der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht vergesse. “Das ist gar nicht so einfach”, gibt er zu. Ein Highlight für ihn war ein Gottesdienst zu seinem Geburtstag. Auch wenn die meisten wohl nicht verstanden haben, was sie da lesen, sang die Gemeinde alle Lieder in Okafors Muttersprache Igbo mit.   

Während der Priester durch die Bilder aus Nigeria scrollt, verstummt sein Lachen. "Ich vermisse meine Heimat", gibt er leise zu. Ob er noch länger in Deutschland bleibt, steht nicht fest. Sein Bischof hat seinen Aufenthalt erst einmal bis Ende 2026 verlängert. Er selbst wäre bereit, nach Nigeria zurückzukehren, was eben doch immer sein erstes Zuhause bleibe. Die Gemeinde hier zeige ihm aber: "Wir brauchen dich hier".

Von Beate Kampen