Vom Schiffbruch, den Großeltern und der Göttlichen Vorsehung
Franziskus veröffentlicht als erster noch lebender Papst seine Autobiografie mit dem Titel "Hoffe". Das Buch erscheint am 14. Januar im Kösel-Verlag. Katholisch.de darf vorab den Prolog der Autobiografie veröffentlichen, in dem der Papst bildhaft vom Schiffbruch des Schiffes erzählt, mit dem seine Großeltern von Italien nach Argentinien auswandern wollten. Auf der einen Seite Erinnerungen, auf der anderen Seite thematisiert der Papst die Tragödien auf dem Meer, die die Migration damals wie heute begleiten.
Es heißt, man habe einen so gewaltigen Stoß verspürt wie bei einem Erdbeben. Die gesamte Reise war begleitet von starken und unheilschwangeren Erschütterungen und "die Schieflage des Schiffes war so stark, dass wir morgens die Tassen mit dem Milchkaffee nicht einfach abstellen konnten, weil sie sonst umgefallen wären". Aber das war noch mal etwas anderes: Es wirkte eher wie eine Explosion, eine Bombe. Die Passagiere kamen aus den Salons und Kabinen und verteilten sich auf den Decks, weil sie wissen wollten, was da los war. Es war schon spät am Nachmittag und der Bug des Schiffes steuerte auf die Küste Brasiliens zu, auf Porto Seguro. Es war jedoch keine Bombe, sondern ein dunkel grollender Donner.
Der Dampfer setzte seine Fahrt fort, aber nur unter großen Schwierigkeiten. Er machte Sprünge wie ein bockendes Pferd, er schlingerte wild hin und her und wurde dabei immer langsamer. Ein Mann, der sich später stundenlang an einem Balken festhalten konnte, erzählte, man habe deutlich gesehen, wie die gebrochene linke Antriebswelle samt Schiffsschraube plötzlich ins Wasser rutschte. In Gänze. Das schlug dem Rumpf eine tiefe Wunde: Das Wasser strömte mit Macht hinein, überschwemmte den Maschinenraum und würde bald den Laderaum erreichen, denn auch die Schotten schienen nicht richtig dicht zu machen.
Man erzählt, dass die Mannschaft versuchte, das Leck mit Metallpaneelen zu schließen. Vergeblich. Und man berichtet, dass die Orchester den Befehl erhielten, weiterzuspielen. Ohne Unterbrechung. Das Schiff neigte sich immer stärker, es wurde allmählich dunkel und das Meer dehnte sich endlos in alle Richtungen. Als klar wurde, dass die Passagiere sich wohl kaum noch mit Ansagen würden beruhigen lassen, gab der Kapitän den Befehl, die Maschinen zu stoppen. Er ließ die Sirenen laut Alarm geben, und die Funker setzten die ersten SOS-Signale ab.
Diese Signale wurden von mehreren Schiffen aufgefangen, zwei Passagierschiffen und sogar zwei Ozeandampfern, die alle in der Nähe waren. Sie kamen dem Schiff sogleich zu Hilfe, mussten jedoch eine gewisse Distanz halten, weil eine gewaltige weiße Rauchsäule vermuten ließ, dass die Dampfkessel in Kürze explodieren würden. Der Kapitän stand mit dem Megafon auf der Brücke und versuchte verzweifelt, die Passagiere zur Ruhe zu mahnen und die Platzverteilung auf den Rettungsbooten zu koordinieren. Frauen und Kinder zuerst. Aber als es Nacht wurde und der Neumond kein Licht gab und auch noch die elektrische Beleuchtung auf dem Schiff ausfiel, eskalierte die Lage schnell. Man ließ die Rettungsboote zu Wasser, aber das Schiff neigte sich mittlerweile zu stark: Einige der Boote gingen auf der Stelle unter, weil sie am Rumpf zerschellten. Andere waren so marode, dass sie ihren Zweck nicht mehr erfüllten: Wasser drang ein, und die Passagiere mussten die Boote mit Hüten ausschöpfen. Wieder andere kenterten in den Wellen oder gingen unter, weil sie überfüllt waren. Viele der Handwerker und Bauern aus Tälern und Ebenen hatten noch nie das Meer gesehen. Sie konnten nicht schwimmen. Gebete und Schreie überlagerten einander. Panik brach aus. Viele Passagiere fielen oder sprangen ins Meer und ertranken. Einige, so hieß es, hätten sich verzweifelt aufgegeben. Andere, so schrieb später die Lokalpresse, wurden von Haien lebendig verschlungen.
In diesem Inferno kam es zu allerlei Kämpfen, aber auch zu bemerkenswerten Gesten des Mutes und der Opferbereitschaft. Ein junger Mann, der Dutzenden Menschen geholfen hatte, bekam einen Rettungsring und wartete, bis er an der Reihe war, ins Meer zu springen. Da sah er einen alten Mann, der nicht schwimmen konnte und keinen Platz in einem der Boote bekommen hatte: Der bat ihn um Hilfe. Der junge Mann streifte ihm seinen Rettungsring über und sprang mit ihm ins Meer, um das nächste Boot zu erreichen. Er paddelte wie wild, als sich aus den Wellen spitze Schreie erhoben: "Haie! Die Haie!" Der junge Mann wurde angegriffen. Einer seiner Gefährten schaffte es, ihn in eines der Rettungsboote zu ziehen, doch seine Verletzungen waren zu schwer. Kurz darauf starb er.
Als die Überlebenden seine Geschichte erzählten, war ganz Argentinien erschüttert. In seinem Heimatort in der Provinz Entre Ríos benannte man eine Schule nach ihm, dem Sohn eines Migranten aus dem Piemont und einer Argentinierin. Er war gerade einmal zwanzig Jahre alt und hieß Anacleto Bernardi. Weit vor Mitternacht war das Schiff mit Wasser vollgelaufen. Der Bug stellte sich senkrecht auf und versank mit einem lauten Seufzer, der beinahe klang wie der eines Tieres, in über 1400 Meter Tiefe. Mehrere Augenzeugen berichteten übereinstimmend, dass der Kapitän bis zum Schluss an Bord blieb und die Orchester die Marcia Reale, die damalige italienische Nationalhymne, spielten. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Kaum begann das Schiff sinken, war das Knallen von Pistolenschüssen zu hören. Es heißt, die Offiziere, die das Menschenmögliche für die Passagiere getan hatten, hätten beschlossen, einander das Schicksal des Ertrinkens zu ersparen.
Einige Rettungsboote schafften es zu den Schiffen in der Nähe, die ihrerseits Rettungsboote zu Wasser gelassen hatten. Gemeinsam gelang es, mehrere Hundert Personen zu retten. Das Bergen der wenigen Überlebenden, die nach Kräften versuchten, sich über Wasser zu halten, dauerte bis spät in die Nacht hinein. Als noch vor dem Morgengrauen brasilianische Schiffe am Unglücksort ankamen, wurden keine Überlebenden mehr gefunden. Dieses Schiff von fast 150 Metern Länge war zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Stolz der Handelsmarine gewesen, der prestigeträchtigste Ozeandampfer der italienischen Flotte. Er hatte wichtige Persönlichkeiten über den Atlantik getragen wie Arturo Toscanini, Luigi Pirandello und Carlos Gardel, die Legende des Tango Argentino.
Doch diese Zeiten waren lange vorüber. Es hatte einen Weltkrieg gegeben, und Verschleiß, Nachlässigkeit und schlechte Wartung hatten das Ihrige getan. Mittlerweile galt das Schiff wegen seines wackeligen Zustandes als balaína, als Ballerina. Als es zu seiner letzten Reise auslief, hatte es, trotz der Bedenken seines Kapitäns, mehr als 1200 Passagiere an Bord, hauptsächlich Migranten aus dem Piemont, aus Ligurien und dem Veneto. Auch Menschen aus den Marken, der Basilikata und aus Kalabrien. Laut Aufzeichnungen der damaligen italienischen Behörden verloren bei dieser Katastrophe nur etwa dreihundert Menschen ihr Leben, vor allem Mitglieder der Besatzung. Doch die Zeitungen in Südamerika nannten weit höhere Zahlen, mehr als das Doppelte. Dazu gehörten auch die blinden Passagiere, einige Dutzend Emigranten aus Syrien und mehrere Erntehelfer, die Italien wieder verließen, um den Winter in ihrer südamerikanischen Heimat zu verbringen. Doch wie sehr das Regime die Katastrophe auch herunterspielen mochte, dieser Schiffbruch war die Titanic Italiens.
Ich weiß nicht, wie oft ich die Geschichte dieses Schiffes gehört habe, das den Namen der Tochter von König Vittorio Emanuele III. trug. Auch sie fand, viele Jahre später, ein tragisches Ende im Lager von Buchenwald, gegen Ende eines zweiten schrecklichen Krieges. Die Principessa Mafalda. Diese Geschichte erzählte man in unserer Familie immer wieder. Man erzählte sie im Viertel.
Die Lieder der Migranten diesseits und jenseits des Ozeans sangen ihre Geschichte: "Von Italien aus brach Mafalda auf mit mehr als tausend Passagieren … Väter und Mütter umarmten ihre Kinder, die in den Wellen den Tod fanden." Meine Großeltern und ihr einziges Kind, Mario, der junge Mann, der mein Vater werden sollte, hatten Fahrkarten für diese lange Überfahrt, für dieses Schiff, das am 11. Oktober 1927 von Genua auslaufen sollte Richtung Buenos Aires. Aber sie gingen nicht an Bord. So sehr sie sich auch bemüht hatten, es war ihnen einfach nicht gelungen, ihre Habseligkeiten rechtzeitig zu verkaufen. Schließlich mussten die Bergoglios notgedrungen die Schiffspassage umbuchen und die Fahrt nach Argentinien aufschieben. Aus diesem Grund bin ich heute hier. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich der Göttlichen Vorsehung noch zu danken hatte.
Hinweis
Papst Franziskus, "HOFFE – Die Autobiografie". Aus dem Italienischen von Elisabeth Liebl. 384 Seiten, 24,00 Euro (24,70 € [A], 33,50 CHF), Kösel-Verlag. Erscheint weltweit am 14. Januar 2025.