Marienerscheinungen wirken als moderne Kulturform bis in die Gegenwart
"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen" – Altkanzler Helmut Schmidt war bekannterweise nicht zimperlich, wenn es um markige Sprüche ging. Dennoch spiegelt dieser Satz im übertragenen Sinne die Einstellung vieler Menschen wider: Visionen, Auditionen oder Erscheinungen haben mehr Leute, als öffentlich bekannt ist. Dennoch werden manche davon in der Kirche, wenn jemandem etwa die heilige Maria erscheint, zum Teil der Ausgangspunkt für große Wallfahrtsströme. Das galt vor 100 Jahren und auch noch heute.
Mit Marienwallfahrtsorten verbinden viele Menschen heutzutage vor allem die großen Publikumsmagneten weltweit: Lourdes und Fatima etwa (beide mit bis zu sechs Millionen Besuchern im Jahr), immer wieder für Aufsehen sorgt zudem das kleine Örtchen Međugorje in Bosnien-Herzegowina. Was bei all diesen Orten auffällt: Die behaupteten Erscheinungen sind noch nicht so lange her, oft weniger als 150 Jahre. Auch zahlreiche Orte mit angeblichen Marienerscheinungen in Deutschland, etwa Wigratzbad (Landkreis Lindau), Heroldsbach (Oberfranken), Marpingen (Saarland) oder Sievernich (Kreis Düren) hatten ihre Hochzeit oft im 20. Jahrhundert.
"Diese Kulte um Marienerscheinungen sind hochgradig modern", sagt die Tübinger Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer, die insbesondere die Marienerscheinungen in Deutschland Mitte des 20. Jahrhunderts untersucht hat. "In der klassischen Marienfrömmigkeit, die es in der Kirche seit Jahrhunderten gibt und die mit Feiertagen, Liedern und regelmäßigen Ritualen verknüpft ist, steht Maria in enger Verbindung zu Jesus Christus." Sichtbar wird das etwa bei der Patrona Bavariae, die ausdrücklich eine Muttergottesfigur mit dem Jesuskind auf dem Arm ist. Andere klassische Darstellungsformen sind Krippenszenen oder die Pietá. Ähnliches gilt auch für frühe Marienerscheinungen wie etwa Unsere Liebe Frau vom Schnee im Jahr 432 in Rom: Diese Vision war eine Gottesmutter mit Kind. Maria steht hier stets in Verbindung mit Christus. Deutlich wird das auch im Rosenkranzgebet: Hier geht es nicht um Maria um ihrer selbst willen, sondern das Leben Jesu wird durch ihre Perspektive nachvollzogen.

Das bestimmende Muster: Lourdes.
Das ist bei den modernen Marienerscheinungen anders, sagt Scheer. "Die heilige Maria erscheint dort als junge Frau, als unbefleckte Empfängnis, ohne Jesus an ihrer Seite. Sie wirkt vielmehr aus sich selbst heraus – das ist anders als das klassische Marienbild. Deshalb gibt es auch immer wieder Reibungspunkte mit dem kirchlichen Lehramt." Denn laut kirchlichem Glauben ist Maria selbst ja keine Heilsbringerin. Doch dieses Schema scheint Menschen etwas zu sagen – denn es hat sich ein Muster an Marienerscheinungen herausgebildet. "Über die Jahre ist eine kulturelle Form entstanden, die wiedererkennbar ist", sagt Scheer.
Ausgangspunkt in Frankreich
Einen Auftakt erlebten die modernen Marienerscheinungen durch die bekannt gewordene "Wuntertätige Medaille", die nach Visionen der Vinzentinerin Catherine Labouré ab 1830 geprägt wurde. Die große Blaupause liegt in den französischen Pyrenäen, in der Nähe der Grenze zu Spanien. Dort im kleinen Örtchen Lourdes behauptete 1858 die damals 14-jährige Bernadette Soubirous, dass ihr eine Frau "in weißen Gewändern" erschienen wäre. Sie hätte sich als "Unbefleckte Empfängnis" bezeichnet, ein Dogma, das erst vier Jahre zuvor von Papst Pius IX. verkündet worden war und einem wenig gebildeten Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen wie Soubirous kaum bekannt gewesen sein dürfte. Bei der kirchlichen Autorität stießen die Erzählungen zunächst auf Ablehnung. Soubirous, die später Ordensfrau wurde, erfuhr ihr Leben lang wegen ihrer Erzählungen auch Ablehnung. Gleichzeitig strömten Menschen nach Lourdes, um an der Quelle, wo es zu den Erscheinungen gekommen sein soll, zu beten und geheilt zu werden.
In Lourdes werden Aspekte sichtbar, die auch Nachfolger prägen werden: Die Visionen haben vor allem junge Mädchen, die abgelegen auf dem Land wohnen, die heilige Maria fordert, eine Kapelle zu bauen (Lourdes) oder den Rosenkranz zu beten (Fatima). "Seit Bernadette Soubirous ist das eine Schablone geworden, sozusagen eine Marke", sagt Scheer. Das setzt sich auch bei den Erscheinungen in Deutschland fort: In Marpingen und Heroldsbach sind es ebenfalls junge Frauen in abgelegenen, unterprivilegierten Umgebungen, in Wigratzbad und Sievernich sind es ebenfalls Frauen, allerdings bereits in ihren 30ern. "Jungen Frauen traut man so etwas seit Lourdes einfach eher zu als anderen Gruppen. Wenn der alte Trunkenbold des Dorfes sagt, er habe die heilige Maria gesehen, wird das abgetan. Aber ein junges Mädchen, das wie in Lourdes auf dem Land lebt, macht so ein Erscheinungsgeschehen wiedererkennbar."

Die Marienverehrung hat einen festen Platz in der Kirche.
Relevant ist dabei auch der Zeitpunkt, zu dem eine Erscheinung berichtet wird. Denn oft, so hat es den Anschein, kommt eine Erscheinung gerade dann, wenn eine Gesellschaft gerade im Krisenmodus ist: Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Frankreich große Auseinandersetzungen um die Rolle der Religion. Manche wollten einen der Kirche verschriebenen Staat, andere eine Entkopplung, wie sie später 1905 auch als Gesetz festgeschrieben wurde. 1917 war in Europa gerade Krieg, in den 1930ern herrschten die Nazis und im Deutschland der 1950er Jahre waren die Folgen des Zweiten Weltkriegs noch überall spürbar und es herrschte im Kalten Krieg Angst vor neuer Gewalt.
Die heilige Maria also als himmlische Krisenintervention? "Das haben die Zeitgenossen der Erscheinungen auf jeden Fall so gesehen", sagt Scheer. Sie selbst ist da jedoch vorsichtiger: "Das würde ich als wissenschaftliche Analyse nicht übernehmen." Sie setzt anders an: "In einer Zeit, die als krisenhaft empfunden wird, sind Menschen eher empfänglich für solche Erscheinungen. Weil ihnen klar ist, dass die heilige Maria einen solchen Zeitpunkt wählen würde, um zu erscheinen." Ähnliches lasse sich auch für die Regionen sagen, in denen solche Erscheinungen zu Anziehungspunkten werden, also etwa der romanischsprachige Raum: Dort gibt es eine ausreichend große Masse an Menschen, für die eine Erscheinung relevant sein kann.
Wie bedeutend Orte von Erscheinungen in Deutschland für das kirchliche Leben sind, lässt sich nur in Ansätzen beschreiben. Die Kirche hat die Erscheinungen in Marpingen, Heroldsbach, Wigratzbad und Sievernich nicht anerkannt. Auf den Internetseiten der Gebetsorte ist oft von der zu Gott hinführenden Kraft die Rede. Katholisch.de hat mehrere Pfarreien kontaktiert, auf deren Gebiet sich diese Orte befinden und gefragt, ob sie dem kirchlichen Leben vor Ort hilft oder es eher zu Konflikten zwischen Gebetsortsanhängern und Pfarrei kommt. Keiner der Pfarrer wollte sich auf die Anfrage äußern. Lediglich aus einem Ort war zu hören, dass man dort dem Geschehen eher kritisch gegenüberstände: Maria werde überhöht und die Authentizität der Erscheinungen sei umstritten.
Bis heute Streit
Um die Authentizität gibt es noch heute Streitereien: So erklärte der Vatikan erst im vergangenen März die vermeintlichen Erscheinungen der Italienerin Gisella Cardia im römischen Vorort Trevignano Romano für ausdrücklich nicht übernatürlichen Ursprungs. Man wirft ihr Betrug vor. Sie hatte mit ihren Erscheinungen zuvor jahrelang gutes Geld gemacht. Zuletzt meldeten italienische Medien: Die angeblich übernatürlichen Blutstränen der dortigen Madonna stammen wahrscheinlich von der selbsternannten Seherin.
Das Thema Marienerscheinungen ist also keineswegs ad acta gelegt: Erst im vergangenen Jahr veröffentlichte der Vatikan neue Leitlinien zur Bewertung von Erscheinungsorten. Wichtigste Neuerung: Über die Übernatürlichkeit der Erscheinungen wird kein abschließendes Urteil mehr getroffen. Es wird lediglich festgehalten, ob das Geschehen dort für Gläubige unbedenklich ist ("nihil obstat") und ob die Aussagen Marias mit der kirchlichen Überlieferung übereinstimmen. Denn laut Lehramt ist die christliche Offenbarung mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen.
Es mangelt auch nicht an neuen Einsatzorten für die heilige Maria. Angesichts des Ukraine-Krieges weihte Papst Franziskus 2022 die Ukraine und Russland der heiligen Maria. "Das finde ich sehr beeindruckend: Wir haben Krieg und sofort wird die heilige Maria herausgeholt", sagt Scheer dazu. Neue Berichte von Marienerscheinungen geben ihr Recht. So gab es vergangenes Jahr in Parczew im Osten Polens Aufruhr um Berichte von Marienerscheinungen an einer Eiche. Von den Anwesenden war zu hören: Man habe Angst vor dem Krieg, da sei das ein Zeichen der Vorsehung Gottes. Gleichzeitig hagelte es ebenso Hohn und Spott. Die Geschichte der Marienerscheinungen ist noch lange nicht zu Ende.