KAB: Krankheit der Wirtschaft nicht auf Rücken von Kranken austragen
Bislang erhalten Arbeitnehmer auch im Krankheitsfall und die ersten drei Tage ohne Attest ihren Lohn weiter. Zuletzt forderte Allianz-Chef Oliver Bäte aber, diese Regelung zu kippen – und trat damit eine Debatte los. Im Interview sagt der Bundesvorsitzende der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB), Andreas Luttmer-Bensmann, was er davon hält und welche Fragen seiner Meinung nach eigentlich wichtig sind.
Frage: Herr Luttmer-Bensmann, halten Sie eine Wiedereinführung des Karenztages für sinnvoll?
Luttmer-Bensmann: Ich halte das für keine kluge Idee. Diejenigen, die krank sind, werden zu einem Attest gezwungen oder schleppen sich in den Betrieb und sind dort nicht leistungsfähig, sondern stecken vielmehr Kollegen an. Das bringt niemandem etwas. Nur für notorische Blaumacher sollte man keine grundsätzliche Errungenschaft in Frage stellen.
Frage: Deutschland hat aber einen wesentlich höheren Krankenstand als andere Länder. Hierzulande sind die Menschen im Schnitt 20 Tage im Jahr krank – in der gesamten EU sind es nur acht.
Luttmer-Bensmann: Das hängt natürlich von den Rahmenbedingungen in den anderen Ländern ab, etwa im Hinblick auf die Möglichkeit von Krankschreibungen oder der Lohnfortzahlung. Im Ernstfall schleppen sich die Menschen dort einfach krank zur Arbeit. Ein anderer Faktor ist die Arbeitsbelastung in Deutschland – die ist häufig krankmachend: Wir haben einen hohen Stand bei psychischen Belastungen und bei orthopädischen. Beide sprechen für hohe Belastungen am Arbeitsplatz. Wir müssen vielmehr darauf schauen, was die Menschen an ihrer Arbeit krank macht und was wir dagegen tun können.
Frage: Spricht eine solche Diskussion nicht auch für verlorengegangenes Vertrauen zwischen Arbeitgebern und -nehmern?
Luttmer-Bensmann: Bis in die 1970er Jahre gab es den Karenztag in Deutschland noch. Seine Abschaffung spricht eher dafür, dass das Vertrauen gewachsen ist. In Einzelfällen kann dagegen ja schon heute ab dem ersten Tag ein Attest verlangt werden. Aber diese Tradition eines grundlegenden Vertrauens wird in Frage gestellt. Auf einmal sind jetzt alle Kranken verdächtig, blau zu machen. Da findet eine fatale Perspektivverschiebung statt. Die Krankheit unserer Wirtschaft sollten wir nicht auf dem Rücken von Kranken austragen.
Frage: Welche Perspektivverschiebung meinen Sie?
Luttmer-Bensmann: Es gibt eine grundlegende Diskussion über die Zukunft unserer Wirtschaft. Die Lage sieht gerade nicht gut aus, da wird nach jedem Strohhalm gegriffen – und so eine Debatte über Krankentage lässt sich da schnell und einfach lostreten. Das ist aber nicht die Lösung für das Gesamtproblem. Das liegt eher darin, dass wir uns mitten in einem Wandlungsprozess des Wirtschaftens befinden, für dessen Herausforderungen wir noch zu wenig Lösungen haben: Eine zukünftige Wirtschaft wird etwa andere Produkte herstellen, Energie anders nutzen und Prozesse anders organisieren. Das bisherige Industriesystem kommt an sein Ende. Dieser Umbauprozess braucht Zeit. Dazu gehört, dass es auch mal eine Delle in der Wirtschaftsbilanz gibt und dass andere auch schneller und effizienter in dieser Transformation sind. Aber: Wir sind weiterhin Exportweltmeister, so schlecht steht Deutschland mit seinen Produkten und Dienstleistungen also gar nicht da. Aber die momentane Wirtschaftslage macht vielen Menschen Angst, auch mit Blick auf die anstehenden Veränderungen für die Beschäftigten. Aber da ist es natürlich einfacher, eine populistische Forderung wie die nach der Wiedereinführung des Karenztags in den Raum zu stellen.
Frage: Gerade ist ja auch Bundestagswahlkampf. Da hat der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz schon gefordert: Um den Wohlstand zu erhalten, müssten alle mehr arbeiten. Ist das Populismus oder hat er Recht?
Luttmer-Bensmann: Da stellt sich die Frage, wie man den Wohlstand definiert. Geht es da nur darum, noch mehr Geld zu verdienen und Weltmarktführer zu sein? Oder bedeutet das nicht auch, Lebens- und Rahmenbedingungen zu haben, in denen die Menschen gut und gesund leben können. Wo Zeit für die Arbeit ist, sollte auch Zeit für das Leben sein. Das Austarieren dieser Balance ist wichtiger als der Wunsch nach noch mehr Geld. Schauen wir etwa in die Pflege: Da wird momentan extrem viel gearbeitet, weil Beschäftigte fehlen. Die, die noch da sind, arbeiten so viel, dass sie davon krank werden. Dadurch fehlen sie dann wieder für die Arbeit, ein Teufelskreis. Wir müssen genauer hinschauen, wie Arbeitsverteilung organisiert ist und wie es gelingen kann, dass Menschen zufrieden mit ihrer Arbeit und ihrem Leben sind. Nur so können sie zur Gesellschaft das beitragen, was diese Gesellschaft braucht.
„Ein gutes Leben lässt sich nicht mit drei Schlagworten organisieren.“
Frage: Mit diesen Fragen sind zahlreiche andere verbunden: Wie viele Migranten dürfen ins Land kommen und wann dürfen sie arbeiten, zum Beispiel. Da wird gerade im Wahlkampf ordentlich Stimmung gemacht. Um gutes Leben geht es da nicht. Wird die Arbeits- und Sozialpolitik zum Spielball des Populismus?
Luttmer-Bensmann: Auf jeden Fall! Ein gutes Leben lässt sich nicht mit drei Schlagworten organisieren. Dagegen sind viele Sprüche, die da gerade im Wahlkampf fallen, reine Angstmache. Die Verschärfung der Zukunftsangst nur um der eigenen Profilierung willen hilft nicht, gesellschaftsgestaltend nach vorne zu denken und die notwendigen Fragen anzupacken. Wir werden an einer neuen Gestaltung unserer Klimapolitik nicht vorbeikommen – und die wird uns etwas kosten. Ob sie uns aber Wohlstand kostet oder Lebensperspektiven bringt, ist komplexer als ein schneller Slogan. Momentan wird auf dem Rücken von Migranten, Bürgergeldempfängern, Menschen mit Behinderung und anderen Menschen am Rand der Gesellschaft Angst geschürt. Wer sowieso schon wenig Teilhabe hat, verliert diese und wer gerade noch in das Wirtschaftssystem passt, bekommt Angst, hinten über zu fallen. Das ist eine Form von politischer Auseinandersetzung, die auch im Wahlkampf nicht angemessen ist.
Frage: Wie kann da eine katholische Haltung den Horizont weiten?
Luttmer-Bensmann: Allen muss es möglich ein, mit Würde und Solidarität zu arbeiten und zu leben. Diese Möglichkeit müssen noch viel mehr Menschen in Deutschland bekommen, damit sie sich in unser Land einbringen und sich positiv entwickeln können. Das geht nicht durch mehr Abgrenzung, sondern durch mehr Sicherheit sowie Arbeitsbedingungen, in denen Menschen zufrieden und gut arbeiten können. Dazu gehört die Akzeptanz unterschiedlicher Leistungsniveaus: Nicht jeder ist ein Top-Performer! Trotzdem muss unsere Wirtschaft für alle funktionieren.