Mertes: Missbrauch wird die Kirche auch in 15 Jahren noch beschäftigen
Vor 15 Jahren machte Pater Klaus Mertes in einem Brief an ehemalige Schüler Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg der Jesuiten öffentlich. Damit kam der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche in Deutschland ins Rollen, da sich in der Folge immer mehr Betroffene aus immer mehr Institutionen meldeten. Im Interview blickt Mertes auf die Ereignisse vor 15 Jahren zurück. Außerdem äußert er sich zu aktuellen Herausforderungen bei der weiteren Aufarbeitung.
Frage: Pater Mertes, Sie haben im Januar 2010 ganz maßgeblich den katholischen Missbrauchsskandal in Deutschland ins Rollen gebracht. Wie blicken Sie heute auf die Ereignisse vor 15 Jahren zurück?
Mertes: Mit großer Dankbarkeit für all das, was seitdem an Aufklärung und Aufarbeitung geschehen ist – so schmerzhaft viele Erkenntnisse und Prozesse auch waren und bleiben.
Frage: Hätten Sie sich 2010 denn vorstellen können, dass die Kirche 2025 immer noch mit dem Missbrauch in den eigenen Reihen beschäftigt sein würde?
Mertes: Ja, das ist mir sehr früh klar geworden. Die Missbrauchsproblematik reicht so tief und ist für die Betroffenen so verletzend, dass man sich vollkommen verabschieden muss von der Vorstellung, dass es eine Strategie geben könnte, mit der man das Thema in zwei, drei Jahren abräumen kann. Vermutlich wird die Kirche auch in 15 Jahren noch nicht mit dem Thema fertig sein.
Frage: 15 Jahre Missbrauchsskandal sind auch 15 Jahre der – teils gelungenen, teils gescheiterten, teils noch ausstehenden – kirchlichen Aufarbeitung. Wie fällt Ihre Bilanz diesbezüglich aus?
Mertes: Aufarbeitung hat ja viele Aspekte: Im Bereich der Aufklärung von Taten und Unterlassungen sind wir, meines Erachtens, weit gekommen. Auch bei der Prävention in unseren Institutionen ist viel erreicht worden. Die Schlüsselfrage, um die sich vieles dreht, ist allerdings die Frage der Entschädigung, bei der vieles noch offen ist. Immerhin wurde aber 2021 die UKA, die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen, gegründet. Das sollte man würdigen, bevor man auf die Schwächen dieses Systems hinweist, die es ja gibt. Insofern: Nach 15 Jahren fällt die Bilanz gemischt aus.
Frage: Sie sprechen die UKA an. Viele Betroffene sind mit den dortigen Verfahren und der Höhe der bislang geleisteten Zahlungen unzufrieden. Sollte man den Versuch unternehmen, hier noch einmal Änderungen im Sinne der Betroffenen herbeizuführen?
Mertes: Das UKA-Verfahren ist das einzige Verfahren zur finanziellen Anerkennung des Leids von Betroffenen, das wir haben. Es bleibt bei dieser Konstruktion allerdings das Problem, dass die Frage, was eine angemessene Entschädigung ist, weder von der Institution Kirche noch von den Betroffenen entschieden werden kann. Hier bräuchte es eine dritte Instanz, die gesellschaftlich breit anerkannt wäre und diese Frage wirklich unabhängig beantworten könnte. Die UKA trägt zwar das Wort "unabhängig" im Namen, man kann ihre Unabhängigkeit aber natürlich in Frage stellen, weil sie von den Bischöfen eingerichtet worden ist. Ich persönlich habe zwar keinen Zweifel an der Authentizität und Seriosität derjenigen, die die Verfahren bei der UKA bearbeiten und die Entscheidungen über die Leistungshöhe treffen. Die zuständigen Personen dort verstehen ihre Arbeit als unabhängig und handeln entsprechend. Aber es bleibt das genannte Grundproblem.
Frage: Sie sprechen sich mit Blick auf die Frage nach einer angemessenen Höhe der Entschädigungszahlungen für eine "dritte Instanz" aus. Wäre hier die Politik gefordert?
Mertes: Nicht wäre – sie ist gefordert. Allerdings hat sie in den vergangenen 15 Jahren nicht den Eindruck vermittelt, sich des Themas wirklich annehmen zu wollen. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Ich habe schon 2010 die Frage nach der Einrede der Verjährung bei zivilrechtlichen Schadenersatzklagen von Betroffenen angesprochen. Es war damals ganz maßgeblich auch die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die sich gegen eine Abkehr von der Möglichkeit der Einrede der Verjährung ausgesprochen hat. Die Bischöfe wollten damals ohnehin gar nicht zahlen. Ich weiß, dass auch Betroffene bei Parteitagen und anderen Gelegenheiten das Thema angesprochen und eine Abschaffung der Möglichkeit zur Einrede der Verjährung gefordert haben. Ihnen wurden Zusagen gemacht, geschehen ist trotzdem nichts. Diese Debatte muss jetzt endlich stattfinden – und sie gehört in den Bundestag, denn sie hat meiner festen Überzeugung nach einen ähnlichen Ernst wie die Debatte über die Verjährung von Mord in den 1970er Jahren.
„Mit Blick auf die Weltkirche wünsche ich mir, dass wir in 15 Jahren kurz vor einem Dritten Vatikanischen Konzil stehen, in dem die großen Fragen, die durch den Missbrauchsskandal enttabuisiert worden sind, ernsthaft bedacht werden und konkrete Konsequenzen auslösen.“
Frage: Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat die Bistümer jüngst in einem Beschluss aufgefordert, "bei zivilrechtlichen Klagen von Betroffenen sexueller Gewalt auf Zahlung von Schadenersatz auf die Einrede der Verjährung zu verzichten und sich auch im Rahmen der zivilrechtlicher Auseinandersetzungen der eigenen Verantwortung zu stellen, statt sich auf juristischem Wege dieser zu entziehen". Wie bewerten Sie diesen Beschluss?
Mertes: Ich kann das Anliegen der Betroffenenverbände verstehen. Ich frage mich aber, warum ausgerechnet das ZdK jetzt diesen Beschluss gefasst hat und ihn, wenn ich richtig informiert bin, innerhalb von nur wenigen Minuten und ohne größere Debatte durchgewunken hat. Das finde ich schwach und einem so ernsthaften Thema nicht angemessen. Ich habe die Frage nach der Einrede der Verjährung in den letzten Jahren öfters vor dem ZdK angesprochen und bin immer auf Schweigen gestoßen. Das ZdK war jahrelang auf die Frage des Vertrauensverlustes der Institution und auf die strukturellen Themen des Synodalen Weges fixiert. Das sind zweifelsohne wichtige Themen. Aber die Frage der Betroffenen nach Entschädigung spielte in den Debatten des ZdK keine Rolle. Und jetzt das Thema nach gefühlt fünf Minuten Debatte durchzuwinken finde ich unterkomplex.
Frage: Wenn Sie nochmal 15 Jahre in die Zukunft schauen: Wo, glauben Sie, wird die Kirche im Umgang mit dem sexuellen Missbrauch dann stehen?
Mertes: Mit Blick auf die Weltkirche wünsche ich mir, dass wir in 15 Jahren kurz vor einem Dritten Vatikanischen Konzil stehen, in dem die großen Fragen, die durch den Missbrauchsskandal enttabuisiert worden sind, ernsthaft bedacht werden und konkrete Konsequenzen auslösen. Mit Blick auf Deutschland wiederum wäre mein Wunsch, dass die Frage der Entschädigung in 15 Jahren längst von einer allgemein anerkannten, unabhängigen Institution zufriedenstellend beantwortet worden ist – und zwar für alle Betroffenen von sexuellem Missbrauch, nicht nur für diejenigen im kirchlichen Kontext.