Familienbund: Eltern müssen niedrigschwellig gestärkt werden
Immer mehr Kinder in Deutschland leben in Familien, in denen die Eltern weder Studium noch Ausbildung absolviert haben. Zwischen 2011 und 2021 stieg ihre Zahl von 11,4 auf 17,6 Prozent, so eine Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), über die das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) berichtet. Mehr als jedes 20. Kind hat sogar Eltern ohne Schulabschluss. Auffällig ist dabei unter anderem, dass Kinder aus nicht-deutschsprachigen oder zweisprachigen Familien besonders häufig betroffen sind. Im Interview spricht die Vizepräsidentin des Familienbundes der Katholiken, Gisela Rink über Ursachen und Folgen dieser Entwicklung. Die Sozialpädagogin aus dem saarländischen Völklingen leitete mehr als zwanzig Jahre lang einen Kinderhort in Saarbrücken, bevor sie von 1994 bis 2017 für die CDU im Landtag des Saarlandes saß.
Frage: Innerhalb von zehn Jahren ist die Zahl der Kinder, die in Elternhäusern aufwachsen, wo die Eltern weder studiert noch eine Ausbildung gemacht haben, eklatant gestiegen. Was bedeutet das?
Rink: Das bestätigt deutlich und dies ist keine neue Erkenntnis, dass diese Kinder in unserem Bildungssystem nicht die gleichen Chancen haben wie andere, deren Eltern ihnen zur Seite stehen können. Sie sind benachteiligt. Zwar wurden in den vergangenen Jahren Ganztagsschulprogramme aufgebaut und die frühkindliche Bildung wurde verstärkt. Aber dies reicht leider nicht aus. Wenn Eltern ihre Kinder nicht so unterstützen können wie andere, müssen wir als Gesellschaft und als Politik diesen Eltern und den Kindern helfen. Diese Familien müssen niedrigschwellig gestärkt werden. Bei mir hier in Völklingen gibt es beispielsweise Babybegrüßungsbesuche: Frisch gewordene Eltern werden besucht und bekommen alle wichtigen Adressen und Informationen, wo sie Hilfe, Unterstützung und Begleitung bekommen können. Manchmal fallen bei diesen Besuchen auch schon Schwächen auf, auf die direkt reagiert werden kann. Eine weitere wichtige Säule ist beispielsweise die Kinderbetreuung. Obwohl es darauf einen Rechtsanspruch gibt, gibt es viel zu wenige Plätze. Bei Kindern mit Migrationshintergrund kann es also passieren, dass die Kinder bei der Einschulung nur kurz oder noch gar nicht in der Kinderbetreuung waren. Da fangen die Benachteiligungen schon früh an. Das gilt etwa mit Blick auf die Sprachkompetenz und betrifft nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund. Kinder bekommen oft keine direkte Ansprache und das Sprachvermögen ist gering.
Frage: Bedeutet das, ungebildete Eltern sind schlechte Eltern?
Rink: Auf keinen Fall. Ich weiß es aus meiner Erfahrung im Sozialen Brennpunkt: Diese Eltern waren immer stolz, wenn ihre Kinder in der Schule erfolgreich waren – auch, weil sie durch Fachpersonal gefördert wurden. Diese Eltern sind keine schlechten Eltern, aber sie sind manchmal nicht in der Lage, ihren Kindern Dinge mitzugeben, die sie selbst nicht können. Dazu gehören sogar Kompetenzen wie Lesen und Schreiben. In manchen Fällen konnten Drittklässler besser lesen als ihre Eltern.
Frage: Es sind zwar nicht nur sie, aber Kinder aus migrantischen Familien stechen heraus. Liegt es also am Ende an der Migration?
Rink: So ein Schwarz-weiß-Denken greift hier nicht. Es ist komplexer. Viele migrantische Eltern würden ihre Kinder gern in die Kindertagesstätte geben, aber sie bekommen keinen Platz. In meiner Heimat gibt es dann Brückenprojekte, in denen Kinder ohne Kindergartenplatz wenigstens stundenweise betreut werden. Das ist natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein. Kinder brauchen eine gute frühkindliche Bildung, damit sie die Chancen bekommen, die sie brauchen. Die Sprache spielt da eine zentrale Rolle: Wenn ein Kind bei der Einschulung kein Wort Deutsch spricht, sind die Probleme vorprogrammiert.
Frage: Wo krankt da das System?
Rink: Wir brauchen viel mehr Sprachförderung für die Kinder – und zwar vor der Grundschule. Dazu muss die Politik auch die entsprechenden Mittel in die Hand nehmen. Wer Kinder erst in der Grundschule sprachlich fördert, setzt deutlich zu spät an. Auch für das Kind ist dies kein guter Start. Es sitzt in einer Klasse mit zwanzig anderen und kann dem Geschehen nicht folgen – das bedeutet ja auch etwas für das Kindeswohl! Es muss hier mehr Angebote geben. Die Eltern warten oft darauf, solche Angebote anzunehmen. Nur dann kann der Bildungsweg erfolgreich werden.
Frage: Kindern helfen ist das eine, Familien helfen das andere. Wie kann man da ansetzen?
Rink: Man kann die Leistung von Familien immer nur ergänzen, nicht ersetzen. Wir müssen bei den Angeboten zum Beispiel unserer Familienbildungsstätten auf Niedrigschwelligkeit achten. Oft erreichen diese Angebote die entsprechenden Familien nicht, weil die Hemmschwelle zu hoch ist. Eine gute Chance haben wir mit Angeboten in Gemeinwesenprojekten, die es in Sozialen Brennpunkten oft gibt. Da ist der Zugang immer nochmal ein anderer als in einem durchgeplanten Kurssystem. Es kommt auf die richtige Ansprache im richtigen Moment an, denn nur so können Beziehungen entstehen und die Förderung die Menschen auch erreichen. Ebenso wichtig ist es, den Familien Zeit zu geben. Viele Familien sind wegen der vielen Arbeit der Eltern zerrieben und haben kaum Zeit füreinander. Diese Möglichkeit muss man ihnen wieder eröffnen und ihre Aufgaben wertschätzen.
Frage: Gerade ist Wahlkampf. Machen Sie die Agenden der Parteien zuversichtlich?
Rink: Wir haben generell das Problem, dass Familien in unserer Gesellschaft viel mehr Wertschätzung brauchen. Natürlich muss man sie auch unterstützen. Aber als Gesellschaft unterschätzen wir konstant, was Familien alles leisten. Das gilt nicht nur im Bereich der Kinder, sondern insbesondere auch für den Bereich der Pflege alter Menschen. Auch dort fehlt es an Pflegeplätzen, an ambulanten und stationären Strukturen.
Frage: Wie kann eine katholische Perspektive da weiterhelfen?
Rink: Die Kirche ist im sozialen Bereich ein wichtiger Player: Mit Familienbildungsstätten, Bildungszentren, Kindergärten und Angeboten in Pfarreien. Da hat sich die Perspektive oft schon geweitet, dass in einer Kindertagesstätte etwa auch wesentliche Elternarbeit und Familienbetreuung geleistet wird. Aber in den Kitaeinrichtungen gibt es das Problem des Fachkräftemangels. Dieses Problem wird leider immer größer. Ab 2026 folgt ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung im Grundschulalter, dafür braucht es natürlich auch Erzieherinnen und Erzieher. Da weiß ich nicht, wo die herkommen sollen. In diesem Bereich hat die Politik noch ganz viele Hausaufgaben zu machen. Wenn wir als Gesellschaft nicht deutlich mehr in unsere Familien investieren, entstehen im weiteren Leben der Menschen ganz erhebliche Defizite, die uns alle noch teuer zu stehen kommen. Man denke allein schon daran, dass Kinder aus bildungsfernen Familien häufiger krank sind als ihre Altersgenossen. Familien sind das Fundament unserer Gesellschaft, dem müssen wir deutlich mehr als bislang gerecht werden.