Die Kanzel – Ein vergessener Ort in der Liturgie
In manchen Kirchen kann man sie noch bewundern: die Kanzel. An einer Wand hängend schwebt sie gleichermaßen über den Besuchern des Gotteshauses. Doch für ihre Funktion hat die Kanzel längst ausgedient. Denn als Ort der Predigt hat sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil der Ambo als Ort der Wortverkündigung etabliert. So hängt die Kanzel in vielen Kirchen, in denen sie nicht sowieso schon entfernt wurde, funktionslos herum. Woher stammt eigentlich die Kanzel? Und was kann man heute in Kirchen mit Orten machen, die ihre liturgische Funktion eingebüßt haben?
Das deutsche Wort Kanzel stammt vom lateinischen Begriff "cancelli" ab. Mit Cancelli waren erst einmal grundsätzlich Schranken gemeint, die zwischen Gegenständen oder Personen aufgestellt wurden. Im Blick auf den kirchlichen Kontext bezeichnete man damit die sogenannten "Chorschranken", die zwischen dem Altarraum und dem Kirchenschiff angebracht wurden. Nichtgeweihten Personen, die nicht dem Klerus angehörten, war es schließlich über viele Jahrhunderte hinweg verboten, den Altarraum zu betreten. Die Chorschranken sollten auch visuell den Eindruck einer Abtrennung zwischen dem sakralen und dem profanen Raum vermitteln. In den Kirchen des Ostens gibt es diese Trennung übrigens bis heute: Sie kommt durch die Ikonostase zustande, die das Allerheiligste vom restlichen Kirchenraum abtrennt. An diesen Chorschranken war die Kanzel jedenfalls ursprünglich angebracht, daher hat sich der Name von der Abtrennung auch auf den Ort der Verkündigung übertragen.
Eindeutiger ist dagegen der im Deutschen auch manchmal verwendete Begriff "Predigtstuhl". Er weist schon auf die Funktion des Einrichtungsgegenstandes hin: Nämlich dass er ein Ort war, von dem aus gepredigt wurde. Die Kirchen des ersten Jahrtausends besaßen noch keine Kanzel. Die Forschung ist sich unsicher, ob es einen ausgewiesenen Predigtort bei den Altarschranken gab oder ob der ursprüngliche Predigtort die Kathedra des Bischofs war. Diese stand im hinteren Bereich der Apsis und thronte etwas erhöht, sodass der auf ihr sitzende Bischof von allen Seiten gut zu hören und zu sehen war. Dass der Bischof an diesem Ort auch sitzend predigte hat seinen Ursprung in der jüdischen Tradition: Schon dort war es üblich, dass die Tora-Lehrer auf ihrem Lehrstuhl saßen, wenn sie wichtige Entscheidungen trafen oder die Schriften auslegten.
Eigener Predigtort ab dem 4. Jahrhundert
Auch neutestamentlich findet sich diese Linie, wenn es zum Beispiel am Anfang der matthäischen Bergpredigt heißt, dass Jesus sich an einem Ort auf einem Berg setzte (vgl. Mt 5,1), bevor er zu predigen begann. Es ist also gut möglich, dass der "Predigtstuhl" in den ersten christlichen Jahrhunderten der Stuhl des Bischofs war. Erst für das 4. Jahrhundert ist schließlich ein eigener Predigtort, nämlich der Ambo bezeugt: Damit die Gemeinde den Prediger besser verstehen konnte, wurde der Ort der Predigt von der Apsis in Richtung Kirchenschiff verlagert. Es gab noch keine Mikrofonanlagen in den Kirchen und wenn die Predigt von einem Ort hinter dem Altar gehalten wurde, ist es gut möglich, dass die Gemeinde nicht so viel verstanden hat.
Im 13. Jahrhundert kam schließlich auch die Kanzel auf, die sich vor allem von den Prediger- und Bettelorden ausgehend entwickelte. Die Bettelorden hatten es sich zu eigen gemacht, nicht nur in den Gottesdiensten zu predigen, sondern ihre Botschaft auch draußen zu verkünden, an den Orten, an denen die Menschen zusammenkamen. Dazu gehörten zum Beispiel die Marktplätze, welche die Bettelorden immer wieder für ihre Predigten nutzten. Freilich benötigten sie hierfür spezielle Holzpodeste, auf denen sie schließlich ihre Predigten abhielten. Sie wollten für die Menschen sichtbar und hörbar sein und das erreichten sie, indem sie kleine Kanzeln bauten, die man mithilfe einer Leiter erklimmen konnte.
Solche Kanzeln hielten schon bald auch in die Kirchengebäude Einzug. Sie waren meist aus Holz oder Stein gefertigt und mit Maßwerk oder Figuren verziert. Als figürliche Darstellungen waren vor allem die vier Evangelisten beliebt, immerhin sollte auf der Kanzel das Evangelium ausgelegt werden. Auch die Kirchenlehrer wurden oftmals auf den Kanzeln dargestellt: Jeder Prediger sollte sich an den berühmten Kirchenlehrern ein Beispiel nehmen und mit ebensolcher Begeisterung predigen, wie sie es getan haben. Doch Kanzeln konnte man zu dieser Zeit nicht nur innerhalb des Kirchenraumes, sondern auch außen an das Kirchengebäude angebracht finden. Auch dort erfüllten sie wieder den ähnlichen Zweck wie schon die provisorischen Holzkanzeln der Bettelorden: Man wollte den Leuten nicht nur im Gottesdienst predigen, sondern auch außerhalb des Gottesdienstes. Und diese Predigten waren dann meistens nicht fromme Schriftauslegungen, sondern allzu oft Predigten, die zum Kreuzzug aufriefen und deren Hauptziel es war, Stimmung zu machen.
Predigt mitten in der Gottesdienstgemeinde
Eine Weiterentwicklung der Kanzel stellte der sogenannte "Schalldeckel" dar, der ab dem 16./17. Jahrhundert beinahe jede Kanzel bekrönte. Er wurde aus praktischen Gründen angeschafft: Um die Worte der Predigt im Kirchenraum besser verständlich zu machen, wurde eine hölzerne Bekrönung über der eigentlichen Kanzel angebracht. Der Schalldeckel sollte helfen, den Schall nicht nach oben ins Kirchendach abdriften zu lassen, sondern ihn gleichmäßig im Kirchenraum zu verteilen. Meistens thront Christus auf den Schalldeckeln der Kanzel, häufig trägt er die Leidenswerkzeuge in seiner Hand. Über dem Haupt des Predigers und somit an der Unterseite des Schalldeckels ist häufig eine Heilig-Geist-Taube angebracht. Sie ist Symbol dafür, dass der Prediger in der Kraft des Heiligen Geistes die Schrift auslegt. Häufig ist auf der Kanzel oder der Kanzel gegenüber ein Kruzifix angebracht, sodass der Prediger seinen Blick immer auf den gekreuzigten Christus richtet.
Was den Standort der Kanzel im Kirchenraum angeht, so ist zu beobachten, dass diese zunehmend in den Kirchenraum hineinrückt. Befand sich der Ort der Predigt mit der Kathedra des Bischofs einstmals am Ende des Kirchraums in der Apsis, so ereignet sich die Predigt nun mitten in der Gottesdienstgemeinde. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist die Kanzel in der katholischen Kirche kein liturgischer Ort mehr. Die "Grundordnung des römischen Messbuchs" vermerkt vielmehr unter Nr. 136: "Der Priester hält die Homilie, wobei er am Sitz, am Ambo selbst oder gegebenenfalls an einem anderen geeigneten Ort steht (…)". Damit ist die Kanzel als Predigtort nicht explizit ausgeschlossen – aber die Liturgie insgesamt hat einen wesentlichen Wandel erfahren. Die Zusammengehörigkeit der Wortverkündigung und der Auslegung des Schriftwortes zeigt sich am einen Verkündigungsort, dem Ambo.
In der Liturgie vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil gab es gerade hinsichtlich der Predigt einen Bruch: Sie gehörte nicht zur Messe dazu, sondern galt als gesonderter Teil. Während die Liturgie in Latein gefeiert wurde, wurde die Predigt in der Volkssprache gehalten. Der Priester zog dazu das Messgewand aus, stieg auf die Kanzel und begann die Predigt "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes". Der Zusammenhang zwischen der Predigt und der restlichen Feier war somit relativ eindrücklich gestört.
In vielen Kirchen wurden die Kanzeln im Zuge der Liturgiereform oder manchmal auch schon vorher entfernt. Dort, wo sie noch erhalten sie, führen sie heute ein stiefmütterliches Dasein. Manchmal dienen sie noch als Lagerort für liturgisches Gerät. Andernorts steigt mancher Priester am Faschingssonntag noch auf die Kanzel, um dort eine gereimte Predigt zu halten. Sonst aber ist die Kanzel wie auch der Hochaltar ein liturgischer Ort, welcher in der Liturgie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil keine Rolle mehr spielt. Allein in der Sprache ist die Bedeutung der Kanzel bis heute erhalten geblieben: Man kann eine "Kanzelrede" halten oder jemanden "abkanzeln". Und wer allzu lehrmäßig daherkommt, der redet gern im "Kanzelton" oder verwendet seinen "Kanzel-Jargon". Allzu positiv ist die Kanzel im Sprachgebrauch jedenfalls nicht belegt. Vielleicht ein Marker dafür, dass auch das, was von der Kanzel gepredigt wurde, manchmal nicht sehr positiv-aufbauend gewesen ist.