Aus der Krise führt nur eine diakonische Kirche
Die allgemeine Krise traditioneller Institutionen, wie sie sich in den gravierenden Mitgliederverlusten von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden seit Längerem zeigt, wird zumeist als eine Krise ihrer Strukturen erkannt. Auch die Krise der katholischen Kirche könnte als ein solches Phänomen betrachtet werden, als ein Dilemma, vor dem sie seit den Missbrauchsfällen in potenzierter Form und weithin ratlos steht. Doch hinter der Beharrlichkeit, mit der kirchliche Schwund- und Verlustphänomene, wenn möglich, übergangen werden, steckt noch ein weit größeres Problem: eine Krise der Repräsentation.
Gemeint ist der seit Jahrhunderten, streng genommen seit dem Universalienstreit des Mittelalters währende erkenntnistheoretische Bruch, wonach religiöse Zeichen die mit ihnen bezeichneten Sachverhalte nicht mehr verlässlich zu repräsentieren vermögen. Es werden an der Oberfläche Behauptungen erzeugt, denen in der Tiefe die Essenz fehlt. Schon damals wurde der Kirche praktisch der Boden entzogen, Gott in der Welt noch verlässlich repräsentieren zu können. Versuche, Gott in den Sakramenten "dingfest" zu machen, waren ebenso brüchig wie die, Gott im biblischen Text fixieren zu wollen. Weder die Lehre von der Transsubstantiation der Elemente in der Eucharistie noch die Lehre von der Irrtumsfreiheit der Schrift konnten verlorengegangene Gewissheiten zurückbringen und den Bruch in der religiösen Erkenntnis heilen. Der Versuch dogmatischer Immunisierung gegen jede Form von Einspruch und (System-)Kritik offenbart bis heute das tiefsitzende, später zudem antimodernistisch aufgeladene Trauma des kirchlichen Lehramtes, das offensichtlich nicht nur noch nicht überwunden ist, sondern sich im Verständnis und der Handhabung von Gewalt und Macht täglich neu aktualisiert.
Ein mehrfaches Desaster
Hier liegt das Kernproblem einer Kirche, die, als hätte sie es vergessen, auf die Botschaft einer ganz und gar gewalt- und machtlosen Gründungs- und Identifikationsfigur zurückgeht. An die Stelle des Jesus von Nazareth, einer möglichen basisgemeindlichen repraesentatio Christi, rückte die Bastion einer Männermacht, die sich in allem Pragmatismus beim Gang durch die Zeit als freiheitsresistent erwies – die als Antwort auf die Freiheitsforderungen der philosophischen Aufklärung schließlich die Schutzmauern eines bigotten Klerikalismus errichtete, in deren Innern der Klerus nun selbst zu ersticken droht: programmatisch, moralisch und kommunikativ ein Desaster. Der Umgang mit der Machtfrage entpuppt sich als eine einzige naiv getarnte, große Scheinheiligkeit.
Die in den Gewändern dogmatischer Sprachspiele verborgene Arroganz der Macht verrät ein Verständnis von göttlicher Offenbarung, das sich vordergründig als "déformation professionnelle", hintergründig als eine "Metaphysik des starken Absenders" (Peter Sloterdijk) lesen lässt. Der besonderen Übermittlungsweise einer Offenbarung entspricht der besondere, sprich: (ein-)geweihte Übermittler. Die Vermittlung des göttlichen Heils wird geschützt und gestützt durch eine Priesterschaft, der ein eigener Zugang zum Heiligen zukommt. Wer dies als Ausdruck eines Machtgefälles zwischen Klerikern und Laien kritisiert oder gar außer Kraft setzen will, entzieht der Kirche als heiliger Institution mental die Legitimation: "Eine solche Operation überlebt die katholische Kirche nicht, oder sie ist nicht mehr die katholische Kirche" (Detlef Pollack).
Kein Wunder also, warum das Modell einer hierarchischen Klerikerkirche mit diktatförmigem Verlautbarungsgestus in Gesellschaften, die durch Demokratie und Teilhabegerechtigkeit gekennzeichnet sind, zwingend scheitern muss. Man möchte fromme Menschen hervorbringen, denen es leichtfällt, sich unterzuordnen, weswegen Partizipationsbestrebungen grundsätzlich gedämpft werden müssen — hin zum Ideal einer kirchlichen, sprich: männlichen Beamtenschaft, die in völliger Selbstlosigkeit nur dienend Macht ausübt. Eine schöne Idee: dass die Macht selber unegoistisch werden soll, um die Welt besser zu machen.
Sich eine Umkehr des kirchlichen Handelns vorzustellen ohne die aktive Teilnahme aller Glieder des Volkes Gottes, scheint unmöglich. "Mehr noch: Jedes Mal, wenn wir versucht haben, das Volk Gottes auszustechen, zum Schweigen zu bringen, zu übergehen oder auf kleine Eliten zu reduzieren, haben wir Gemeinschaften, Programme, theologische Entscheidungen, Spiritualitäten und Strukturen ohne Wurzeln, ohne Gedächtnis, ohne Gesicht, ohne Körper und letztlich ohne Leben geschaffen", schreibt Papst Franziskus allen Christ:innen ins Stammbuch.
Wiederbesinnung auf jesuanisches Vermächtnis
Eine neue Solidarität im Kleinen und Zerstreuten müsste entstehen. Der Exodus gebiert bekanntlich die überzeugendsten Zeugnisse. Es wäre die Wiederbesinnung auf ein biblisches, ein jesuanisches Vermächtnis: "Ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen" (Mt 25,36). Es wäre der Gegenentwurf einer menschenzugewandten, diakonischen Kirche. Gott kann in der Welt nicht verlässlich, geschweige denn herrschaftlich repräsentiert werden. Ein neues Verhältnis zum Mythischen, zum Unbewussten und Traumhaften ist erforderlich. "Wir brauchen eine Theologie der Krise, die in der Brüchigkeit der menschlichen Erkenntnis (…) jenem Wehen des Heiligen Geistes lauscht, das uns erkennen und sagen lässt, wie uns Gott fehlt. Denn anders werden wir den Gottesglauben nicht mehr zur Sprache bringen können“, schreibt Peter Scherle.
Dieses diakonische Prinzip ist so erfolgreich wie fluide und fragil. Es wird Menschen in Zerreißproben führen. Ich halte es für unumgänglich, wenn "der Mensch der Weg der Kirche" sein soll. Radikales Umdenken und ein grundsätzlicher Perspektivwechsel tun not. Fluide wird die Kirche an den Rändern und von unten. Gebraucht werden mutige Grenzgänger:innen, Kundschafter:innen, Experimentalist:innen, die relevante Unterschiede herstellen. Gesucht werden Alternativen zur XXL-Version von Kirchesein, kleine netzwerkartige Verbünde, die die harte Trennlinie zwischen dem "System" und den individuellen Beheimatungsbedürfnissen der Menschen durchbrechen und neue Lebensformen des Christlichen wagen.
Der Autor
Ludger Verst (*1959) ist Theologe, Diakon und Publizist und seit 2016 Lehrbeauftragter am Institut für Pastoralpsychologie und Spiritualität der PTH Sankt Georgen in Frankfurt am Main.