Marxist und Priester: Vor 100 Jahren wurde Ernesto Cardenal geboren
Mit seinen langen Haaren, Bart und markanter Baskenmütze gehörte Ernesto Cardenal zu den schillerndsten Persönlichkeiten Lateinamerikas. Und nur schwer in eine Schublade zu stecken. Er war Priester, Mystiker, Widerstandskämpfer, Revolutionär, Poet, Marxist und Ex-Kulturminister Nicaraguas. Vor 100 Jahren, am 20. Januar 1925, wurde er im nicaraguanischen Granada geboren.
Cardenal nannte sich selbst "Sandinist, Marxist und Christ". Für Linke war er seit dem Sturz der Somoza-Diktatur 1979 der Beweis dafür, dass sich Christentum und Marxismus nicht widersprechen. Er sah sich mitten im Volk, "das ist meine Pflicht als Dichter und auch meine Pflicht als Priester".
Christen und Kommunisten an einem Strang
Damals hatte ein Bündnis den seit 1936 an der Macht klebenden Familien-Clan aus dem Land getrieben. Erstmals in der Geschichte erkämpften Christen und Kommunisten gemeinsam einen Machtwechsel. Katholische Konservative sahen in Cardenal indes den gefährlichen Vorkämpfer einer falschen Bibelauslegung.
Weil er wie zwei weitere Geistliche ein Ministeramt in der Revolutionsregierung übernommen hatte, verbot ihm Papst Johannes Paul II. 1985 die Ausübung des priesterlichen Dienstes. Cardenal reagierte, wie es seine Art war – stoisch-stur und auch immer ein bisschen provozierend: "Mein Priesteramt ist von anderer Art, deshalb ist es nicht nötig, die Aufhebung der Sanktion zu betreiben." Punkt. Im Februar 2019 hob Franziskus das Verbot auf, eine späte Geste der Versöhnung.
Cardenal hatte mehrfach Sympathien für den ersten Papst aus Lateinamerika bekundet: "Er ist dabei, die Dinge im Vatikan auf den Kopf zu stellen. Nein, genauer ausgedrückt: Er stellt die Dinge, die verkehrt herum stehen, wieder auf die Füße."
Doch Cardenal, der sich als völlig unmusikalisch und farbenblind beschrieb, stand für mehr als die Auseinandersetzung mit seiner Kirche. Noch mit über 90 Jahren tourte Cardenal durch den deutschsprachigen Raum und las aus seinen Gedichten und Geschichten. "Das Buch von der Liebe" gehört hierzulande zu seinen bekanntesten Werken; es wurde in 18 Sprachen übersetzt und ist ein Klassiker der modernen Meditationsliteratur. "Der Mensch ist eine Erfindung der Liebe und wurde geschaffen zum Lieben", schreibt er dort etwa. Oder: "Die ganze Schöpfung ist die Schönschrift Gottes, und in seiner Schrift gibt es nicht ein sinnloses Zeichen."
Für sein literarisches Werk bekam er viele internationale Auszeichnungen, so 1980 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und 2012 den spanischen Königin-Sofia-Preis für Iberoamerikanische Literatur. Kritiker nannten ihn den "Begründer der mystischen lateinamerikanischen Literatur" oder einen "der originellsten christlichen Mystiker des 20. Jahrhunderts".
"Die Kontemplation führte uns zur Revolution"
1966 gründete der Nonkonformist, der auch mit über 90 im deutschen Winter mit offenen Sandalen über Eis und Schnee lief, auf der Insel Solentiname im Nicaragua-See eine an radikal-urchristlichen Idealen orientierte Gemeinschaft. Er suchte dort nach einem kontemplativen Leben – ganz dem Gebet, der Einsamkeit, Stille und Meditation gewidmet. Über seine spirituellen Betrachtungen behielt der Theologe aber auch den Alltag der Menschen im Blick. "Die Kontemplation führte uns zur Revolution. Sonst wäre es keine echte Kontemplation gewesen", erinnerte er sich.
Bis zuletzt hielt Cardenal, der 2020 in Managua gestorben ist, Christentum und Marxismus für miteinander vereinbar und prognostizierte entgegen allen Trends ein "Jahrhundert eines marxistischen Christentums". Die wichtigste Entscheidung seines Lebens sei, dass er sich Gott verschrieben habe "und damit auch dem Volk und der Revolution".
In seinem posthum veröffentlichten Werk "Nichts existiert allein – Letzte Gedichte" wird zudem deutlich, wie groß Cardenal dachte und wie demütig er die Rolle des Menschen im Universum sah – inmitten von mehr als Hundert Milliarden Galaxien. Dennoch glaubte er fest daran, dass Gott dieses große Ganze zusammenhält. "Nichts existiert allein; sein heißt vereint sein", heißt es dort. Im Urknall habe alles einen gemeinsamen Ursprung und eine konstante Verbindung - und in der fortdauernden Schöpfung auch eine gemeinsame Zukunft. "Eins plus eins ist nicht zwei sondern eins. Die Rettung ist nicht die des einzelnen sondern aller gemeinsam."