Erzbischof Bentz: Uneingeschränkte Hilfe für Gaza nötig
Im Heiligen Land herrscht nach Worten des Paderborner Erzbischofs Udo Markus Bentz während der Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas eine angespannte Stimmung zwischen Hoffnung und Angst. Jeder kleine Fortschritt sei in dieser Phase wichtig, sagt Bentz im Interview. Als Vorsitzender der Arbeitsgruppe Naher und Mittlerer Osten der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) nahm er an einem internationalen Bischofstreffen in der Region teil.
Frage: Herr Erzbischof, Sie sind mit Beginn der Waffenruhe im Gazastreifen im Heiligen Land angekommen. Wie haben Sie diesen Moment erlebt?
Bentz: Nervosität und Anspannung waren deutlich spürbar. Mit dem 7. Oktober wurde ein neues Kapitel im Konflikt und in den Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern aufgeschlagen. Die dominierende Frage in den Gesprächen war, ob jetzt wieder etwas Neues beginnt. Die Stimmung bewegt sich zwischen einer sehnsuchtsvollen Hoffnung und einer großen Unsicherheit. Gleichzeitig muss jeder noch so kleine Schritt, der den Menschen hilft, als Fortschritt gesehen werden – unabhängig von Skepsis, Verunsicherung und Angst.
Frage: In die Zeit Ihres Besuchs fiel auch die Amtseinführung von Donald Trump als Präsident der USA, der als eine seiner ersten Amtshandlungen die von seinem Vorgänger ausgesprochenen Sanktionen gegen radikale jüdische Siedler aufgehoben hat. Wie bewerten Sie das, auch vor dem Hintergrund anhaltender Siedlergewalt gegen Palästinenser?
Bentz: Man muss sich fragen, welches Zeichen Trump damit setzen will – in den ersten 24 Stunden, in denen die zaghafte Pflanze des Waffenstillstands zu wirken beginnt, und in den ersten Stunden seiner Amtszeit, bei der er sehr symbolträchtige Entscheidungen trifft. Das Aussetzen der Sanktionen gegen extremistische Siedler bekommt so besondere Symbolkraft. Welches Zeichen setzt Trump mit Blick auf die Menschen in den besetzten Gebieten, die extremen Kräfte innerhalb der israelischen Regierung und den Waffenstillstand? Ich halte das für ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Vielleicht ist es der Preis für das Abkommen zum Waffenstillstand. Und dann müssen wir sehen, wie hoch dieser Preis ist, den unschuldige Menschen bezahlen müssen.
Frage: Zu Ihren Gesprächspartnern gehörte der katholische Pfarrer aus Gaza, Gabriel Romanelli, der sich per Zoom zuschalten konnte. Was haben Sie von ihm über die Situation erfahren?
Bentz: Was Pater Gabriel berichtet hat, bestätigt, was wir über die katastrophale humanitäre Situation hören. Jetzt muss als allererstes uneingeschränkt humanitäre Hilfe geleistet werden. Sie ist längst überfällig, aber jetzt gibt es keine Entschuldigung mehr, sie zurückzuhalten. Es braucht Wasser, Lebensmittel, Treibstoff und medizinische Versorgung. Wir hören, dass die vertriebenen Menschen zurückkehren wollen – aber was heißt es, zurückzukehren und im wahrsten Sinne des Wortes vor einem Schutthaufen zu stehen? Es wird viel von Wiederaufbau gesprochen, der eine enorme Herausforderung sein wird. Es müssen Millionen Tonnen von Schutt beiseitegeschafft werden. Es braucht Milliarden, um die Infrastruktur aufzubauen. Die größte Herausforderung aber wird der Wiederaufbau eines Beziehungsgeflechtes und von Vertrauen sein.
„Ich halte das für ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.“
Frage: Die Welt schaut auf Israel und Gaza, wie haben Sie die Lage im besetzten Westjordanland erlebt?
Bentz: Gerade, weil die Westbank derzeit im Schatten von Gaza liegt und weder ausreichend noch differenziert genug wahrgenommen wird, haben wir bei unserem Besuch bewusst einen Fokus darauf gelegt. Auf dem Weg ins christlich-palästinensische Dorf Taybeh und nach Ramallah haben wir erlebt, wie extrem der Alltag der palästinensischen Bevölkerung ist. Die Mobilität ist stark eingeschränkt, Orte sind durch zusätzliche israelische Checkpoints und Straßensperrungen schwierig erreichbar. Rund 150.000 Palästinenser haben bei Beginn des Kriegs ihre Arbeitserlaubnis in Israel verloren. Die Gewalt von Siedlern und latente alltägliche Aggression haben seit dem 7. Oktober 2023 zugenommen. Siedlungstätigkeiten, die gegen das Völkerrecht verstoßen, wurden intensiviert.
In diese Situation hinein kam die Nachricht der Trump-Entscheidung und macht einmal mehr klar, wie stark solche Entscheidungen auf höchster politischer Ebene das Leben der Menschen prägen. Es braucht mehr und stärkere Stimmen, die den Siedlungen und der Siedlergewalt Einhalt gebieten. Sie stellen eine Existenzbedrohung für die Menschen im Westjordanland dar, erhöhen die Gefahr einer Radikalisierung und sind so letztlich eine Gefahr für die Sicherheit der Menschen auf beiden Seiten.
Frage: Welche weiteren Empfehlungen nehmen Sie mit nach Deutschland, wo der Diskurs zu Nahost zuletzt von starken Polarisierungen geprägt war?
Bentz: Für politische Botschaften gibt es Experten. Mir ist es wichtig, mit meinen Wahrnehmungen dazu beizutragen, dass ein differenzierteres Bild entsteht. Der deutsche Botschafter in Tel Aviv, Steffen Seibert, hat bei unserem Treffen auf etwas hingewiesen, was wir als Außenstehende wahrscheinlich gar nicht nachvollziehen können: was es heißt, dass alle hier durch den 7. Oktober traumatisiert sind. Jeder ist in irgendeiner Form von den Geschehnissen berührt. Auf meine Frage, warum nicht mehr gegenseitige Empathie wächst, wenn das Leid auf beiden Seiten so groß ist, verwies er auf etwas, was viele Israelis ihm sagen: Ihre seelischen Ressourcen sind durch das, was sie als Bedrohung erleben, und durch das erlittene Leid so ausgeschöpft, dass es schwer ist, in dieser Phase zu einem Perspektivenwechsel zu kommen.
Es brauche jetzt eine Politik der konkreten Schritte, ohne die große Vision einer Konfliktlösung aus den Augen zu verlieren. Oder, mit den Worten des Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa: Der Dreh- und Angelpunkt, an dem sich ablesen lässt, ob man sich wirklich aufeinander zubewegt, ist die Frage, ob man aufhört, sich gegenseitig das Existenzrecht abzusprechen. Solange das nicht der Fall ist, kann es keinen dauerhaften Frieden geben.
Frage: Pizzaballa gehört zu denen, die immer wieder um eine Rückkehr der Pilger ins Heilige Land werben.
Bentz: Christen sind in besonderer Weise vom Ausbleiben der Pilger betroffen und sobald es die Situation zulässt, sollten Pilgerfahrten wieder aufgenommen werden. Aber ich bin der Überzeugung, dass künftig auch hier ein neues Kapitel aufgeschlagen werden muss. Pilgern muss noch mehr als bisher bedeuten, nicht nur die heiligen Stätten zu besuchen, sondern den Menschen im Heiligen Land zu begegnen und nicht nur den Christen. Gleichzeitig kann die Präsenz der Christen, die sozusagen Teil von allen Konfliktparteien sind, durch ihre Botschaft, aber auch durch die Art, wie sie leben, ein Beitrag dazu sein, dass dieses Land Frieden findet.