Fällt der jüdisch-katholische Dialog dem Gaza-Krieg zum Opfer?
"Im Moment hat es den Anschein, dass die Kirche, oder zumindest ein Teil von ihr, erneut der Versuchung erliegt, die Verbindungen zum Judentum abzubrechen." Überraschend harsche Worte von Roms Oberrabbiner Riccardo Di Segni: Der jüdisch-christliche Dialog drohe zum Kollateralschaden des am 7. Oktober 2023 entfesselten Kriegs zu werden, sagte Di Segni ausgerechnet am 36. Welttag des Dialogs zwischen Katholiken und Juden, den die Italienische Bischofskonferenz vergangene Woche (16. Januar) in der Päpstlichen Lateran-Universität veranstaltete.
Durch seine Kritik an Israels Regierung habe der Papst zu einer weltweiten "Welle antiisraelischer Feindseligkeit" beigetragen. Israel und das jüdische Volk säßen nun "auf der Anklagebank" – mit Unterstützung eines Teils der Kirche, so die bittere Klage des jüdischen Geistlichen.
Papst Franziskus sieht sich seit Beginn des Krieges in Nahost immer wieder Vorwürfen vor allem aus dem Judentum ausgesetzt. Wirklich neu ist das nicht, denn der jüdisch-katholische Dialog hatte schon immer auch eine politische Komponente. Doch mit dem aktuellen Gaza-Krieg nehmen diplomatische Verwerfungen zu – ausgelöst durch Gesten und Worte des Papstes.
Genozid-Vorwürfe?
So äußerte eine Delegation des Jüdischen Weltkongresses (WJC) Anfang Dezember im Vatikan Bedenken wegen möglicher Genozid-Vorwürfe von Franziskus gegen Israel. Im Vorwort des Buchs "Hoffnung enttäuscht nie" schrieb der Papst: "Nach Ansicht einiger Experten weist das Geschehen in Gaza die Merkmale eines Völkermords auf. Wir sollten sorgfältig prüfen, ob es in die von Juristen und internationalen Gremien formulierte technische Definition passt."
Hohe Wellen schlug ferner ein Foto des Papstes vor einer von Künstlern aus Bethlehem gestalteten Weihnachtskrippe für den Vatikan. In dieser lag das Christkind ausgerechnet auf einem Palästinensertuch. Wer das politisch hochbrisante Stück Stoff dort platzierte, wurde nie wirklich geklärt; es verschwand kurz darauf. Genuas Oberrabbiner Giuseppe Momigliano beklagte nach dem Skandalfoto eine "Palästinisierung" der Person Jesu, der doch ein Jude gewesen sei. Durch solche symbolischen Handlungen schädige Franziskus die Beziehungen zum Judentum, kritisierte der Vizepräsident der italienischen Rabbinervereinigung UCEI.
Ob Zufall oder Kalkül: Am nächsten Tag begab sich Franziskus in den römischen Palazzo Cipolla, um sein Lieblingsbild "Weiße Kreuzigung" des jüdischen Malers Marc Chagall (1887-1985) zu bewundern, 1937 unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verfolgung entstanden. Das Gemälde zeigt Jesus unter anderem mit einem jüdischen Gebetsschal als Lendentuch und umgeben von zahlreichen jüdischen Symbolen wie etwa der Menorah, dem siebenarmigen Leuchter.
Doch wie ist das persönliche Verhältnis des argentinischen Kirchenoberhaupts zum Judentum? Der in Buenos Aires geborene Jorge Mario Bergoglio ist der erste Papst, der die Judenverfolgung der Nazis nicht als europäischer Zeitgenosse erlebt hat. Juden begegneten ihm vielfach als Emigranten, die dem Holocaust entronnen waren. Der für deutsche Politiker geläufige Gedanke, dass Israels Sicherheit zur eigenen "Staatsräson" gehört, ist im Vatikan eher unüblich. Stattdessen schreibt der Papst in seiner gerade erschienenen Autobiografie "Hoffe": "Ich habe immer authentische Freundschaften mit den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde gepflegt, auch mit ihren Führungspersönlichkeiten und Rabbinern – von Kindesbeinen an und mit derselben Selbstverständlichkeit später als Priester, Erzbischof und Kardinal."
Dabei erwähnt er auch die enge Freundschaft mit seinem Landsmann Abraham Skorka: Der Rabbiner sei einer der ersten gewesen, die er am Abend seiner Wahl am 13. März 2013 angerufen habe. Hier erinnert Franziskus an eine Besonderheit: "Zwischen Juden und Christen wird kein interreligiöser Dialog geführt. Es ist vielmehr ein Gespräch in der Familie", so seine Erläuterung: "Die einen wie die anderen sind mit dem einen Gott verbunden."
In seinen jüngst erschienenen persönlichen Erinnerungen findet er Worte zum 7. Oktober 2023, die manche lange vermisst haben: An diesem Tag habe eine "neue Barbarei" begonnen "mit dem Gemetzel, das die Schergen der Hamas angerichtet haben". Sie hätten viele Israelis als Geiseln genommen, Soldaten und Zivilpersonen "gnadenlos massakriert", "auf die teuflischste und brutalste Weise", so der Papst. Um dann direkt Kritik an der Gegenwehr Israels üben: "Ein Krieg, der die Zivilbevölkerung ununterbrochen Qual und Hunger aussetzt, bringt den gleichen sinnlosen Terror hervor." Beim Neujahrsempfang des Diplomatischen Corps wiederum verurteilte er "die zunehmenden antisemitischen Äußerungen" gegen immer mehr jüdische Gemeinden in der ganzen Welt "aufs Schärfste".
Praktisch verstummt?
Doch was auch immer der Papst im Moment tut: Der christlich-jüdische Haussegen hängt schief. Im Vatikan ist schon länger zu hören, der Dialog sei praktisch verstummt – und das ausgerechnet im 60. Jahr der Erklärung "Nostra Aetate" des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965), mit dem die Kirche ihr Verhältnis zum Judentum auf eine neue Basis stellte.
Traditionell bemüht sich der Heilige Stuhl um Ausgewogenheit zwischen Israel und Palästina; ein fast unmögliches Unterfangen. Er unterhält diplomatische Beziehungen zu Israel und zur Palästinensischen Regierung. Religiös sieht sich die katholische Kirche mit dem Judentum tief verbunden, schließlich teilt man viele Heilige Schriften, und seit dem Pontifikat von Johannes Paul II. (1978-2005) werden die Juden häufig als "ältere Brüder" bezeichnet.
Auf offizieller Ebene jedoch sei der Dialog seit dem Gaza-Konflikt im "Standby-Modus", sagte der Sekretär der Vatikan-Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, Pater Norbert Hofmann, der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). "Für manche Aussagen des Papstes haben wir zuletzt Protestbriefe von jüdischer Seite bekommen." Probleme für die Ende Oktober an der Päpstlichen Universität Gregoriana geplante Tagung zum 60. Jahrestag von "Nostra Aetate", an der auch Vertreter des Judentums teilnehmen wollen, zeichneten sich derzeit aber nicht ab, sagte Hofmann.
Unter anderem unterhält seine Abteilung seit 2002 einen Austausch mit dem Oberrabbinat in Israel, berichtet der deutsche Salesianerpater. Zuletzt habe es im Mai 2023 ein Treffen in Jerusalem gegeben, 2024 sei es wegen des Gaza-Konflikts nicht möglich gewesen. "Wenn die fragile Waffenruhe im Gazastreifen hält, können wir den Dialog auf allen Ebenen wieder beleben", so seine Hoffnung. Derzeit laufe der Austausch mit Vertretern des Judentums aber auf persönlicher Ebene weiter.
Zum Beispiel mit Viktor Eichner, seit Oktober 2023 Repräsentant des Jüdischen Weltkongresses beim Heiligen Stuhl. "Die jüdische Gemeinschaft weltweit ist tief verunsichert und getroffen, auch durch den überall wachsenden Antisemitismus infolge des Krieges", sagte Eichner der KNA. Institutionen seien wichtig, "aber im Moment geschieht auf offizieller Ebene nicht viel", so Eichner.
Immerhin gibt es jetzt eine Initiative Eichners mit dem Deutschen Botschafter beim Heiligen Stuhl, Bernhard Kotsch. Anlässlich des Holocaustgedenktags laden sie am 4. Februar unter dem Titel "Let Us Never Forget" in die Botschaft ein. Dort wollen sie das Forschungsprojekt des Münsteraner Kirchenhistorikers Hubert Wolf über Bittschreiben verfolgter Juden an den Vatikan vorzustellen. Wolf und sein Team fanden die rund 10.000 Briefe aus dem Pontifikat von Papst Pius XII. (1939-1958) im Vatikan-Archiv, das Franziskus 2020 für die Forschung freigegeben hatte. Die Dokumente werden derzeit zur Veröffentlichung vorbereitet.
"In Auschwitz verstummte ich"
"Die Schatten der Erinnerung sollen Gesichter und Geschichten bekommen", heißt es in der Einladung. "So geraten die Verfolgten und Getöteten nicht in Vergessenheit und verschwinden aus der Erinnerung. Sie werden zu Zeugen der Grausamkeit, die ihnen widerfahren ist", so die Initiatoren. "Und vor allem: für unsere eigene Gegenwart und für zukünftige Generationen."
Franziskus selbst besuchte im Juli 2016 die Holocaust-Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau – und sei "verstummt", schreibt er in seiner Autobiografie. Statt eine Rede zu halten, saß der Papst still und allein vor der Erschießungswand in der Hungerzelle und betete. Lediglich im Gedenkbuch hinterließ er die Worte: "Herr, hab Erbarmen mit deinem Volk! Herr, vergib uns für so viel Grausamkeit!"
In einem Live-Interview im italienischen Fernsehen bekräftigte Franziskus am Sonntag, der Gedanke an die Schoah wecke in ihm "ein Gefühl von Trauer und Scham". Dass Menschen zu etwas fähig seien, sei eine Schande und ein Schmerz, sagte er in der Sendung "Che Tempo Che Fa". Es sei so wichtig, die Geschichten der Millionen Ermordeten immer wieder zu hören.