Birgit Abele hat über 20 Jahre langen spirituellen Missbrauch überlebt
Birgit Abele hat ein Buch über ihre Erfahrungen in einer geistlichen Gemeinschaft aufgeschrieben. Die Details erschüttern. Ihre Zweifel wurden während ihrer Zeit in der Gruppe immer wieder durch die damaligen "Oberen" weggewischt. Sogar, als sie mit Anfang 20 zur Mission in ein radioaktiv vergiftetes Gebiet geschickt wird. Was der heute 52-Jährigen geholfen hat, sich aus dem System aus eigener Kraft zu befreien, darüber berichtet sie im Interview mit katholisch.de.
Frage: Frau Abele, Sie haben ein Buch über Ihre spirituellen Missbrauchserfahrungen in einer geistlichen Gemeinschaft geschrieben, die Sie als "Gemeinschaft der Liebe" bezeichnen. Um welche Gemeinschaft handelt es sich dabei?
Abele: Mein Anliegen war es nicht, mit meinem Buch eine bestimmte Gemeinschaft in ein schlechtes Licht zu rücken. Mir war wichtig, aufzuzeigen, welche Dynamiken in spirituell missbräuchlichen Systemen wirken, was diese mit einer Person machen und wie sie sich auf ihr Leben auswirken. In einer Rezension der Tagespost war dann zu lesen, dass es sich um die "Familie Mariens" handelt.
Frage: Würden Sie Ihr Buch als Tatsachenbericht beschreiben?
Abele: Ja, genauso wie ich es beschrieben habe, habe ich es erlebt. Ich bin mit 20 Jahren in die Gemeinschaft eingetreten und war 23 Jahre ein Teil von ihr. Das Buch drückt mein persönliches Erleben aus. Um mich abzusichern, habe ich an ehemalige Schwestern und Brüder geschrieben, ob sie meine Wahrnehmung bestätigen können. Manche konnten dies in vollem Umfang, manche erlebten diese oder jene Details anders. In der Sache stimmten wir aber alle überein.
Frage: Es ist erschütternd, Ihren Bericht zu lesen. Woher kam die Kraft, das alles aufzuschreiben?
Abele: Fünf Jahre nach meinem Austritt kamen meine bis dahin verdrängte Erfahrungen in der Gemeinschaft plötzlich in mir hoch. Diese ließen mich innerlich nicht mehr zur Ruhe kommen. Ich brauchte ein Ventil, um das zu verarbeiten. Als Freunde dann meine Aufschriften lasen, ermutigten sie mich, diese zu veröffentlichen, vorwiegend mit der Absicht, anderen Betroffenen Mut und auf das Phänomen des spirituellen Missbrauchs aufmerksam zu machen. Ich wollte zur Aufklärung über geistlichen Missbrauch beitragen. Bislang gab es im deutschsprachigen Raum keine Autobiografie über spirituellen, ohne sexuellen, Missbrauch. Ich wollte aufzeigen, was es mit einem Menschen machen kann, wenn man in so ein System gelangt.
Frage: Ihre Eltern hatten damals versucht, Sie als junge Frau aus der Gemeinschaft herauszuholen. Doch es gelang ihnen nicht…
Abele: Ja, meine Eltern haben es wiederholt versucht. Heute weiß ich, warum. Die Manipulation greift sehr schnell. Schon nach kurzer Zeit war ich damals, nach meinem Eintritt mit 20 Jahren, total beseelt davon, zu der Gemeinschaft gehören zu wollen. Heute bin ich meiner Mutter dankbar. Es war für meine Eltern schwer, das mitanzusehen, wie ich mich aufgab, um für die Gemeinschaft zu leben. Ich war froh, dass sie dann weiterhin den Kontakt zu mir hielten, mich unterstützten.
„Wenn es mir nicht gut ging, wurde mir gesagt, dass ich zu wenig gebetet habe, und wenn ich traurig war, war ich zu wenig 'geopfert'. Es wurde gesagt, dass sich alle Probleme durch das Rosenkranz-Beten lösen lassen.“
Frage: Sie schreiben in Ihrem Buch sehr anschaulich, wie Sie den spirituellen Missbrauch erlebt haben. Was war für Sie dabei am schlimmsten?
Abele: Ich nahm den spirituellen Missbrauch lange Zeit nicht wahr. Durch die erfolgte massive Manipulation hatte ich eine spirituelle Antwort auf alles, was mich eigentlich hätte alarmieren müssen: Körperliche oder seelische Leiden sollten im Geist der Miterlösung ertragen werden. Wenn es mir nicht gut ging, wurde mir gesagt, dass ich zu wenig gebetet habe, und wenn ich traurig war, war ich zu wenig "geopfert". Es wurde gesagt, dass sich alle Probleme durch das Rosenkranz-Beten lösen lassen. Andere Lösungsansätze wurden vernachlässigt. Diese Spiritualität war ungesund. Der ständige innere Zwang, alles zum "Opfer zu bringen" und mehr zu beten, ließ mich meine innere Freiheit und meinen eigenen Willen völlig verlieren. Ich hatte ständige Schuldgefühle und das Gefühl, nie zu genügen. Dadurch entfernte ich mich immer mehr von mir selbst und schließlich auch von Gott, da ich systematisch lernte, die eigene Wahrnehmung auszuschalten und mich ganz "den Oberen" zu unterwerfen. Die Oberen waren ein Pater und eine Schwester, die wir mit "Vater" und "Mutter" ansprachen. Sie gaben den "Willen Gottes" vor und sagten mir, wie ich mich zu verhalten hatte. Wir Schwestern erfüllten so eine Art geistige Mutterschaft für die Priester der Gemeinschaft und dienten ihrer Heiligung. Das spirituelle Konzept des Gehorsams gab vor, alle Bitten zu erfüllen und möglichst nicht Nein zu sagen. Konflikte wurden durch das Gebet und die Beichte gelöst. Ich erlebte eine zunehmende innere Entfremdung und Sinnlosigkeit bis hin zum Verlust meiner eigenen Persönlichkeit.
Frage: Sie wurden für einen Missionseinsatz der Gemeinschaft unter anderem nach Kasachstan geschickt, an einen Ort in der Nähe eines ehemaligen Atombombentestlagers. Welche gesundheitlichen Folgen hatte das für Sie?
Abele: Während meiner Missionsjahre in Kasachstan wurde ich sehr krank. Es waren Schadstoffe im Trinkwasser, wir atmeten jeden Tag Giftgase ein. Die ganze Gegend war radioaktiv vergiftet. Doch ich hörte immer wieder den Imperativ, dass ich mein Leben Gott aufopfern solle. Unsere Oberin sagte uns, dass uns die Radioaktivität nicht schaden werde. Ich habe in gläubiger Blindheit darauf vertraut. Wir haben dort wundertätige Medaillen verteilt und mit den Menschen Gottesdienste gefeiert. Ich dachte, ich müsste das alles im Gehorsam tun. Die starke atomare Verseuchung sowie die Schwermetallbelastung der Luft und des Wassers schädigten mein Immunsystem nachhaltig, sodass ich zahlreiche Lebensmittelunverträglichkeiten entwickelte. Zudem war ich mit damals gerade einmal 22 Jahren ohne Ausbildung viel zu jung und unerfahren für die Mission in einem solch schwierigen Gebiet. Die Armut der Menschen, die verwahrlosten Kinder, das setzte mir sehr zu. Von den gesundheitlichen Belastungen konnte ich mich nie mehr ganz erholen. Bis heute gibt es die Missionsstation in Kasachstan. Eine Schwester, die nach mir über zehn Jahre dort im Missionsgebiet war, ist inzwischen an einer Krebserkrankung verstorben.
Frage: Was war der Auslöser, dass Sie es aus eigener Kraft schafften, nach 23 Jahre aus der Gemeinschaft auszusteigen?
Abele: Es begann mit einem völligen Zusammenbruch. Damals erlaubte ich mir zum ersten Mal, das spirituelle Gebäude der Gemeinschaft infrage zu stellen. Mir wurde klar, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Durch die Inanspruchnahme fachlicher Hilfe gelang es mir nach und nach, mich von falschen Glaubensannahmen und Denkmustern zu befreien. Dies war ein langer und schwieriger Weg, da immer der Zweifel im Raum stand, möglicherweise vom "rechten Weg" abzukommen. Erst nach Jahren konnte ich meiner eigenen Wahrnehmung wieder vertrauen und mich nach und nach von der Gemeinschaft lösen. Ich konnte - noch in der Gemeinschaft - bei den Oberen durchsetzen, dass ich studieren und dann eine systemische Therapieausbildung machen durfte. Als ich das abgeschlossen hatte, wurde mir gesagt, dass ich in diesem Beruf nicht arbeiten darf. Das war der Moment, in dem ich entschieden habe, auszutreten. Ich habe dann begonnen als Sozialpädagogin zu arbeiten. Damals war ich 43 Jahre alt.

"Bedenklich ist zudem, wenn Spiritualität und Glaube mit Leistung verbunden sind und in einer Gruppe eine starke soziale Kontrolle ausgeübt wird", sagt Birgit Abele, sie ist ausgebildete Sozialpädagogin und Heilpraktikerin für Psychotherapie.
Frage: Wenn Sie heute auf Ihre Erfahrungen blicken, was empfehlen Sie Menschen, um sich davor zu schützen?
Abele: Gerade beim Kennenlernen einer Person oder einer Gemeinschaft ist es wichtig, auf Warnzeichen, sogenannte "red flags" zu achten, und sich nicht vom anfänglichen "love bombing" blenden zu lassen. Warnhinweise können sein, wenn die geistliche Begleitung keine diesbezüglichen Qualifikationen vorweisen kann, und ihre Meinung mit der "Stimme Gottes" gleichgesetzt wird. Ebenso ist Vorsicht geboten, wenn eine Person oder Gruppe ihren eigenen Weg als den einzig "wahren" idealisiert und andere Wege abwertet. Spätestens wenn Autoritätspersonen blinden Gehorsam fordern und jegliche Kritik und Zweifel als Vergehen gegen Gott auslegen, sollte die innere Alarmglocke schrillen. Bedenklich ist zudem, wenn Spiritualität und Glaube mit Leistung verbunden sind und in einer Gruppe eine starke soziale Kontrolle ausgeübt wird. Die eigene innere Freiheit muss immer gewährleistet sein. Wenn man sich nicht ganz sicher ist, ist es hilfreich, die Meinung einer neutralen Person einzuholen, die sich mit spirituellem Missbrauch auskennt. Umso mehr halte ich es für wichtig, dass flächendeckend innerkirchliche Anlaufstellen für Opfer spirituellen Missbrauchs geschaffen werden, die eine angemessene, auch psychologische Unterstützung der Personen gewährleisten. Es sollte schon im Religionsunterricht, in der Katechese und in Jugendgruppen auf die Gefahr des spirituellen Missbrauchs hingewiesen werden. Zudem sollten geistliche Gemeinschaften schärfer überprüft werden. Betroffene ermutige ich, sich fachliche Unterstützung zu holen und mit dem Erlebten nicht allein zu bleiben. Es erfüllt mich mit einer leisen Hoffnung, dass der Vatikan in den letzten Jahren vermehrt neue geistliche Gemeinschaften auf spirituellen Missbrauch hin überprüft und nun auch eine Arbeitsgruppe für die Ausarbeitung eines kirchenrechtlichen Straftatbestands für geistlichen Missbrauch ins Leben gerufen hat. Die Notwendigkeit, Personen vor Missbrauchstätern zu schützen, scheint in der Kirche zumindest ansatzweise angekommen zu sein, auch wenn hier noch sehr viel zu tun ist, auch hinsichtlich der Unterstützung und Entschädigung der Opfer.
Frage: Welche Reaktionen haben Sie von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft auf Ihr Buch erhalten?
Abele: Es haben sich zahlreiche ehemalige Mitglieder bei mir gemeldet, die sich in meinen Beschreibungen wiedererkennen konnten. Vielen hat das Buch geholfen, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren und besser zu verstehen. Betroffene fühlten sich mit ihrem Erleben nicht mehr so allein und hatten nun etwas in der Hand, was sie anderen weitergeben konnten. Insgesamt habe ich für die Veröffentlichung des Buches sehr viel Dank bekommen. Aus der Gemeinschaft selbst habe ich keine Rückmeldung erhalten.
Frage: Sind Sie in der Zwischenzeit aus der Kirche ausgetreten?
Abele: Nein, das bin ich nicht. Ich habe verstanden, dass Gott nicht wollte, dass ich meine innere Freiheit und meinen Willen aufgab. Seit meinem Austritt aus der Gemeinschaft fühle ich mich mit Gott intensiver verbunden und vertraue darauf, dass er mich weiterhin begleitet.
Buch über spirituellen Missbrauch
Das Buch von Birgit Abele mit dem Titel "Wieder ich selbst – Mein Weg aus dem Gefängnis spirituellen Missbrauchs" ist im Herder-Verlag erschienen und kostet 22 Euro. Das Nachwort im Buch schreibt Barbara Haslbeck, Beraterin bei der Anlaufstelle für Frauen, die im kirchlichen Raum spirituellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt erfahren haben.