Ein Vormittag in einer Großstadtkirche: Wer kommt? Und warum?

Wer die Herz-Jesu-Kirche im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg außerhalb von Gottesdiensten besuchen möchte, braucht eine gewisse Hartnäckigkeit und zumindest rudimentäres detektivisches Gespür. Denn obwohl die Kirche in der von sanierten Gründerzeitbauten geprägten Fehrbelliner Straße laut einer Übersicht des Erzbistums Berlin an mehreren Vormittagen in der Woche geöffnet sein soll, ist sie in der Regel verschlossen.
"Die Information des Erzbistums muss ein Versehen sein", sagt Gemeindeverwalter Matthias Kohl beim Besuch von katholisch.de. Dort seien offenbar die Öffnungszeiten des Gemeindebüros angegeben, die Kirche selbst sei jenseits der Gottesdienste und der abendlichen Eucharistischen Anbetung nicht geöffnet. Dafür hat die Gemeinde – abgesehen von den Sonntagen in der Fastenzeit und der Adventszeit – leider nicht die notwendigen personellen Ressourcen, so Kohl.
Wer in die Kirche will, muss die versteckte Klingel finden
Und doch: Diejenigen, die es wirklich wollen und sich vom vergitterten Hauptportal nicht abschrecken lassen, können tagsüber fast immer in die Kirche gelangen. Dafür müssen sie allerdings die etwas versteckte Klingel von Kohls Büro finden, der ihnen dann über einen Seiteneingang den Zugang in das Gotteshaus ermöglicht. "Wer klingelt, den lasse ich in der Regel auch rein", erläutert Kohl sein Vorgehen als "Türsteher" von Herz Jesu. Die Zahl derjenigen, die klingelten, sei zwar an den meisten Tagen marginal – sie habe im vergangenen Jahr aber spürbar zugenommen, berichtet der Verwalter. Woran das liege, darüber könne er nur spekulieren, da er die Besucher meist nicht nach dem Grund für ihren Besuch frage. "Ich vermute aber, dass es mit den zahlreichen Krisen unserer Zeit zu tun hat." Immer mehr Menschen sehnten sich nach Geborgenheit und Zuspruch.

Mel Aaron Flores von den Philippinen bei seinem Besuch in der Herz-Jesu-Kirche.
Wie zum Beweis klingelt es an diesem Vormittag gleich mehrfach an Kohls Tür. Zuerst, so erzählt der Verwalter, habe am frühen Morgen ein Mann um Einlass in die Kirche gebeten. Kohl sagt, dass er den Besucher vorher noch nie gesehen und ihn deshalb ausnahmsweise doch nach dem Grund für sein Begehren gefragt habe. "Er hat mir dann gesagt, dass er zufällig an der Kirche vorbeigekommen sei und sich spontan dazu entschieden habe, den Rosenkranz beten zu wollen."
Der nächste Mann, der an Kohls Tür klingelt, ist Mel Aaron Flores. Der 28-jährige Philippiner möchte ebenfalls in der Kirche beten. Im Gespräch berichtet er, dass er in seiner Heimat Seminarist sei und gerade den Vatikan besucht habe. Nun nutze er seinen Aufenthalt in Europa, um auch noch seinen Bruder zu treffen, der seit vielen Jahren als Softwareingenieur in Berlin arbeite. Flores zeigt sich tief beeindruckt vom Innenraum der Herz-Jesu-Kirche. Das von außen eher unscheinbare, im romanischem Stil errichtete Gotteshaus ist in seinem Inneren nämlich vollständig bunt ausgemalt. Besonders ins Auge sticht die überdimensionale Christusfigur in der Apsis.
Eine alte Bekannte an der Kirchentür
Kaum ist Flores gegangen, klingelt es schon wieder an der Tür des Gemeindebüros. Die Frau, die nun in die Kirche möchte, ist für Kohl eine alte Bekannte: Weghata Habtom stammt aus Eritrea, kam als Zweijährige mit ihren Eltern nach Deutschland und lebt mittlerweile seit zehn Jahren in Berlin. Die 37-jährige Kosmetikerin erzählt, dass sie Herz Jesu meist einmal pro Woche besucht, um in der Stille der Kirche zu beten und Zwiesprache mit Gott zu halten. "Obwohl ich auch zu Hause bete, habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich mich hier in der Kirche Gott näher fühle und eine stärkere Verbindung zu ihm habe", sagt sie. Sie könne ihre Gedanken in der Kirche noch besser mit Gott teilen als zu Hause. "Wenn mich Dinge bedrücken oder ich Fragen habe, dann mache ich das nicht allein mit mir aus, sondern beziehe Gott hier in der Kirche mit ein."

Die von außen eher unscheinbare, im romanischem Stil errichtete Herz-Jesu-Kirche im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg.
Habtom, die im Westen Berlins eine kosmetische Praxis für Permanent Make-up betreibt, ist also "Stammgast" in Herz Jesu und genießt deshalb einen ganz besonderen Service. Damit sie bei Bedarf jederzeit – also auch außerhalb der Öffnungszeiten des Gemeindebüros – in die Kirche kann, hat Matthias Kohl ihr vor einiger Zeit eine kleine Box neben den Eingang gehängt. Gesichert mit einem Zahlencode befindet sich darin der Schlüssel zur Kirche. "Wenn Weghata kommt und ich nicht da bin, holt sie sich den Schlüssel aus der Box und macht sich die Kirche selbst auf", erläutert Kohl das Prozedere. Habtom schließe sich bei diesen Besuchen in der Kirche ein, schließlich sei sie dann ja ganz allein und damit für das Gotteshaus verantwortlich. "Wenn sie geht, schließt sie die Kirche wieder ab und legt den Schlüssel zurück in die Box", so der Verwalter.
Zufällige Besucher und ein betender Mann aus Australien
Während Habtom an diesem Vormittag noch in einer der vorderen Bankreihen ins Gebet vertieft ist, kommen ein Mann und eine Frau in die Kirche. Sie setzen sich in die letzte Reihe und bleiben ein paar Minuten schweigend nebeneinander sitzen, ehe sie das Gotteshaus wieder verlassen. In der Zwischenzeit hat Verwalter Kohl – wegen des Besuchs von katholisch.de – ausnahmsweise den Haupteingang der Kirche geöffnet. Wer jetzt in die Kirche möchte, muss also nicht mehr klingeln. "Solange Sie da sind, können wir das doch einfach mal ausprobieren. Vielleicht lockt das ja noch mehr Menschen an", sagt Kohl zum Reporter.
In der Tat kommen kurz danach zwei Frauen, die als Passantinnen anscheinend zufällig an der Kirche vorbeigekommen sind und nun die Gelegenheit nutzen, einmal kurz in das Gotteshaus hineinzugehen. Flüsternd stehen sie ein paar Minuten am Ende des Mittelgangs und lassen ihre Blicke über die Wandmalereien schweifen. Als sie wieder gegangen sind, betritt ein älterer Mann die Kirche. Zielstrebig steuert er eine Bank in der Mitte des Gotteshauses an, kniet sich hin und beginnt zu beten. Nach einer Viertelstunde steht er wieder auf und strebt zum Ausgang. Dort erzählt er, dass er David heißt, 64 Jahre alt ist, aus dem australischen Melbourne stammt und als Tourist in Berlin zu Besuch ist.
„Ich war zuerst in der Hedwigs-Kathedrale, aber da hat es mir überhaupt nicht gefallen.“
Doch warum hat er an diesem Vormittag bei all den berühmten Berliner Sehenswürdigkeiten ausgerechnet Herz Jesu aufgesucht? "Ich war zuerst in der Hedwigs-Kathedrale, aber da hat es mir überhaupt nicht gefallen. Das ist die protestantischste katholische Kirche, die ich je gesehen habe", erzählt er mit einer gewissen Fassungslosigkeit in der Stimme. Die Kathedrale, die im November nach jahrelanger Sanierung und Umgestaltung wiedereröffnet worden war, sei ihm vorgekommen wie eine "leere Leinwand". "Es gibt dort nicht einmal einen Kreuzweg, außerdem war es sehr unruhig. Ich konnte dort nicht beten."
Verwalter Kohl: "Das ist wirklich unglaublich"
Deshalb habe er bei Google nach anderen katholischen Kirchen in Berlin gesucht, und dort sei ihm dann ein Bild von Herz Jesu angezeigt worden. "Das hat mir gut gefallen, so dass ich mich auf den Weg hierher gemacht habe." Er sei dankbar, dass er diese Kirche gefunden habe, denn hier habe er in angemessener Andacht verharren können. "Das hat gut getan. Was für eine schöne Kirche das ist", sagt er, bevor er das Gotteshaus verlässt, und in Richtung der belebten Schönhauser Allee davongeht.
Matthias Kohl ist am Ende dieses Vormittags ziemlich erstaunt. So viele Besucher an einem einzigen Vormittag seien absolut ungewöhnlich. "Das ist wirklich unglaublich. Das muss mit dem Besuch von katholisch.de zu tun haben", sagt er lachend. Er will nun überlegen, wie er möglicherweise auch an anderen Tagen mehr Leute für einen Besuch in Herz Jesu interessieren kann. "Vielleicht kann ich ja ein großes Schild vor die Türe stellen mit der Aufschrift 'Kommen Sie gerne herein'."