Trotz Kritik und Distanz: Musik hat sie zur Kirche gebracht

"Schlag mal nur die unteren vier Seiten an. Mach das ein paar Mal, dann klingt es ganz schnell sauberer." Die Jugendliche gibt mit der Gitarre in der Hand ihr Bestes und nach ein paar Versuchen gelingt der C-Dur-Akkord. Es folgen E-Moll und G-Dur. Anfangs klingen die Töne noch etwas dumpf, ein Finger liegt versehentlich mit auf der Seite. Dann werden sie klarer. Das Mädchen lächelt zufrieden, ebenso ihre Lehrerin. "Sehr schön! Da machen wir nächste Woche weiter." Ihre Schülerin geht und Luna-Marie Pracht räumt noch etwas auf. Die 19-Jährige legt die Gitarre wieder an ihren Platz in dem mit Instrumenten vollgestopften Probenraum der Jugendkirche "JuLe" in Leverkusen. Der Hauptteil des Abends steht aber noch bevor: Pracht probt mit dem Jugendchor.
Dass sie einmal so weit kommt, war nicht abzusehen. Mit Musik zu tun hat Pracht schon immer. Als Jugendliche bekommt sie dann eine besondere Bedeutung: "Ich hatte damals in der Mittelstufe nicht so viele Freunde in der Schule. In der Pause habe ich mich lieber in unsere Schulkapelle gesetzt und Klavier gespielt." Manchmal trifft sie dabei auf den Schulpfarrer, der ihr musikalisches Talent erkennt. Irgendwann fragt er sie, ob sie nicht Lust hätte, Gottesdienste zu begleiten.
Der Pfarrer vermittelt sie an die "JuLe", eine der ältesten Einrichtungen ihrer Art in Deutschland. Die besteht aus der Aloysiuskapelle in der Fußgängerzone im Stadtteil Opladen sowie einem offenen Jugendtreff im Keller unter der Kirche. Neben besonderen Gottesdiensten für Jugendliche gibt es im Café etwa Kreativ- und Kochrunden sowie Getränke und einen Kicker. Hin und wieder beginnt Pracht, hier bei den Gottesdiensten die Lieder am Klavier zu begleiten. Für die damals erst 14-Jährige eine willkommene Beschäftigung. "Ich musste nicht mit anderen zusammenarbeiten, ich konnte einfach für mich üben." Doch beim gelegentlichen Klavierspiel bleibt es nicht: In der "JuLe" lernt sie Gleichaltrige kennen, die genau wie sie nun immer wieder da sind. Sie arbeiten im Jugendtreff unter der Kirche an der Theke oder bieten Aktivitäten an. Irgendwann fragen sie auch Pracht, ob sie nicht mitmachen möchte. Sie möchte. "So habe ich dann bald Menschen kennengelernt und neue Kontakte aufgebaut."
Aus Zufall zur Musik
Dass sie dabei den Schwerpunkt Musik bekommt, ist Zufall: "Ich bin der Musikmensch hier in der Kirche geworden, weil sich sonst niemand darum gekümmert hat. Der Musikraum war zwar da, aber niemand hat ihn bespielt." Also fängt Pracht an, mit anderen Jugendlichen dort Klavier oder Gitarre zu spielen oder zu singen. Daneben spielt sie immer häufiger in den Gottesdiensten und steht mit 16 Jahren im Jugendtreff auch hinter der Theke. Sie wächst mit dem Ort zusammen: "Das ist ein Safe Space hier."
Anfang 2024 gibt es einen Wechsel in der Leitung der "JuLe" und Nicole Kaluza übernimmt den Staffelstab. "Ich habe mir gedacht: Wie kann man Jugendarbeit aufbauen? Was ist Begleitung? Viele der Jugendlichen hier haben nicht viel – und Musik mögen alle." Also setzt sie sich mit Luna-Marie Pracht zusammen und legt ihr die Idee eines Chores nahe. "Musik kann die Selbstentfaltung enorm stärken", so Kaluza. Sie sieht darin auch einen biblischen Auftrag: "Jesus hat schon immer gefragt: Wer bist du, was brauchst du. Das machen wir hier auch." Pracht nimmt – damals als Jugendliche – an.
Chorleiterin Luna-Marie Pracht legt die Noten zusammen.
Die Anfänge des Chores im April 2024 sind erst einmal wenig glamourös. "Zur ersten Probe ist eine Person gekommen, die dann aber wieder gegangen ist", erzählt Pracht mit einem Schmunzeln. Doch sie lässt sich nicht unterkriegen. Nach und nach wächst der Chor. Das liegt auch an geschickten taktischen Schritten: So können Schülerinnen und Schüler der örtlichen katholischen Hauptschule ihr Mitsingen als Unterrichtszeit anrechnen lassen. Was außerdem geholfen hat: "Die Leute kennen sich untereinander, da nimmt man auch mal jemanden zur Probe mit."
Mittlerweile besteht der Chor aus neun Sängerinnen und Sängern zwischen 13 und 17 Jahren. Er trifft sich zu den Proben in der Kapelle über dem Jugendcafé. Dort hat Pracht gerade den Flügel von seiner Schutzhülle befreit und holt aus einem Nebenraum schwarze Mappen: Sie zählt die Notenblätter ab. Wer kommt heute, wer kommt nicht? Was singen wir? Konzentriert pendelt sie zwischen Notenlager und Flügel links neben dem Altarraum. Sie legt Blätter zusammen und klappt nach getaner Arbeit die Mappen zu. Denn langsam laufen schon die ersten Jugendlichen ein.
Zählen und Aufwärmsingen
Ein junger Mann setzt sich gleich ans Klavier und beginnt zu spielen. Pracht lacht, als sie sagt, er sei ihr "Vorzeigeschüler" – natürlich nur im Spaß! "Er hatte am Anfang mit Musik nichts zu tun. Jetzt kann er Akkordsymbole lesen, sich selbst begleiten und tritt an seiner Schule auf." Der junge Mann strahlt und beginnt, ein paar Takte zu singen.
Als alle da sind, geht es mit Aufwärmübungen los: Die Jugendlichen zählen, ohne sich einander anzuschauen, gemeinsam in einer zufälligen Reihenfolge bis zwanzig. Das schärft die Konzentration, schließlich ist es schon Abend. Dann geht es an die stimmliche Arbeit: "No no no no no no no", schallt es durch den Kirchenraum. Die neun Stimmen fluten das Gewölbe und klingen in jeder Ecke nach.
Dass Luna-Marie Pracht weiß, was sie da tut, kommt nicht von Ungefähr: Mittlerweile studiert sie Musik und Deutsch auf Lehramt – mit dem Hauptfach Chorleitung. "Ich baue diese Spiele extra ein, um den Leuten die Angst zu nehmen. Denn den Satz 'Ich kann ja gar nicht singen', habe ich auch schon oft gehört." Wie der Chor von ihrem wachsenden Wissen profitiert, so entwickelt auch sie sich weiter: "Durch meine Arbeit mit dem Chor bin ich viel selbstbewusster geworden. Einen Chor zu leiten, das hätte ich mir früher nie zugetraut." Außerdem kann sie in der "JuLe" experimentieren und direkt erfahren, ob Übungen oder Musikstücke funktionieren oder nicht.
Nun erklingt das erste Lied:
"In das Land, in dem für immer Frühling ist
Darf jeder komm'n und jeder geh'n, denn es gibt immer ein'n Platz am Tisch
Rot karierter Stoff, keine weißen Flaggen mehr
Alle sind willkomm'n, kein Boot, das sinkt im Mittelmeer."
Der ganze Körper wird aktiviert.
Das Repertoire ist bewusst säkular, Popsongs statt Gotteslob – viele Lieder eignen sich aber auch für den Gottesdienst. Das liegt vor allem am Text: "Die einzige Vorgabe, die wir haben: Es darf nicht gegen die Kirche oder den Glauben sein", sagt Pracht. Abseits davon wird aber gesungen, worauf die Jugendlichen Lust haben. Von ihnen kommen die Liedvorschläge – und das ist in der Regel keine Kirchenmusik. "Was man davon im Gottesdienst singen kann, das singen wir im Gottesdienst – die anderen Sachen eben nicht." In der Kirche singt der Chor etwa einmal im halben Jahr, da bleibt genug Musik für die Kirche übrig. Nur einzelne Vorschläge hat sie schonmal abgelehnt: "Wir haben hier auch antikirchliche Leute." Daneben aber auch manch tiefgläubigen Sänger, der gern einen Gospel möchte. "Bei vielen Texten sind die Bezüge oft übertragbar: Ob auf Liebe, Freundschaft oder Gott. Das machen wir uns zunutze." Sie sieht es als ihre Aufgabe, so viel wie möglich zu ermöglichen: "Die Jugendlichen kommen hier freiwillig hin. Es soll vor allem Spaß machen."
Wer Luna-Marie Pracht bei der Probe zusieht, mag kaum glauben, dass sie nur wenige Jahre älter ist als die Chormitglieder, die sie anleitet: Fällt das Energielevel mal nach unten, weiß sie, welche Methoden funktionieren, wie zum Beispiel die Jugendlichen den Text laut in die andere Ecke des Kirchenraumes rufen zu lassen. Singt jemand leiser als andere, fördert sie einzelne direkt. So entsteht ein runder Klang, in dem die Männerstimmen allerdings bislang deutlich lauter sind als die Frauenstimmen. Zwischendurch ist genug Zeit, einen Schluck Wasser zu trinken oder Fragen der Chormitglieder zu beantworten, wie: "Was ist eigentlich ein Kanon?" Dazu ist das Repertoire breit gefächert: Englischsprachige Popmusik bis hin zu Rap stehen heute auf dem Programm. Luna-Marie Pracht ist zufrieden: "Je mehr die Jugendlichen die Lieder kennen, umso selbstbewusster werden sie – und umso besser."
"Also ich habe nichts gegen die Kirche"
Anderthalb Stunden wird Musik gemacht. Dann ist bei der ganzen Gruppe die Müdigkeit groß, inklusive Chorleiterin. Man verabschiedet sich, denn bei den Jugendlichen steht morgen früh schon wieder die erste Schulstunde auf dem Plan.
Luna-Marie Pracht legt die Notenblätter zusammen und klappt den Flügel zu – hinter ihr steht das Kreuz hinter dem Altar. Um Religion oder Glaube ging es bislang noch gar nicht. Danach gefragt, zögert sie. "Also ich habe nichts gegen die Kirche", formuliert sie es. Gläubig sei sie schon, ob sie sich als überzeugt katholisch bezeichnen würde, dabei sei sie sich noch unsicher. "Viel steht zu Recht in der Kritik." Probleme mit der Kirche habe sie wie jeder andere auch: "Wenn es um die Rolle von Frauen geht oder den Zugang zur Pille, das sehe ich schon alles sehr kritisch", sagt sie. Außer mit der "JuLe" hat sie bisher wenig Berührungspunkte mit der Kirche. "Aber dass es sowas wie die 'JuLe' von der Kirche gibt, das ist doch schonmal was sehr Gutes."
"Wenn die Leute alle Lust auf Singen haben und mit Begeisterung dabei sind, alle freiwillig – warum nicht", sagt Luna-Marie Pracht.
Auch wenn sie Gottesdienste begleitet, steht für sie in der "JuLe" die Musik im Vordergrund, nicht der Glaube. "Ich blende den Text beim Begleiten aus. Spirituell hat mich das Spielen der Messe nicht verändert", sagt sie nüchtern. Ihr geht es um die Gemeinschaft, das Singen, die Musik. "Ich könnte mir aber gut vorstellen, mal Kirchenchöre zu leiten und mich dabei auf geistliche Stücke zu konzentrieren, das ist schöne Musik. Wenn die Leute alle Lust auf Singen haben und mit Begeisterung dabei sind, alle freiwillig – warum nicht?"
Es ist schon lange dunkel, als Luna-Marie Pracht an der Kirchentür steht und das Licht ausknipst. Auch für sie war es ein langer Tag. "Ich habe vorher nicht immer Lust auf die Proben, das ist sehr viel Arbeit", sagt sie. Aber: "Nach einer Probe geht es mir immer besser als vorher." Mit einem Lächeln lässt sie die Tür zufallen. Der Kirchenraum ist jetzt ganz dunkel – und ungewohnt still.