Juristin Brosius-Gersdorf hatte auf Koalitionsvertrag verwiesen

Plant Schwarz-Rot eine Legalisierung von Abtreibungen?

Veröffentlicht am 24.07.2025 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Berlin ‐ Die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf hat mit einem Satz bei "Markus Lanz" eine neue politische Debatte entfacht: Plant die Bundesregierung eine Legalisierung von Abtreibungen? Union und SPD sind uneins, die Kirche alarmiert. Wie deuten Theologen die entsprechenden Aussagen im Koalitionsvertrag?

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Als die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf in der vergangenen Woche in der ZDF-Talksendung von Markus Lanz saß und über ihre – vorerst? – gescheiterte Wahl zur Richterin am Bundesverfassungsgericht sprach, dürften auch zahlreiche katholische Kirchenvertreter zugeschaut haben. Immerhin hatten zuvor mehrere Bischöfe und Laienvertreter deutliche Kritik an der SPD-Kandidatin geäußert. Vor allem frühere Aussagen Brosius-Gersdorfs zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen sowie zur Menschenwürde ungeborener Kinder hatten im kirchlichen Raum für Aufregung gesorgt.

Ob Brosius-Gersdorf die Kritiker mit ihrem Auftritt in der Sendung überzeugen konnte, ist bislang unklar – ebenso wie die sich daraus ergebende Frage, ob der Bundestag sie nach der parlamentarischen Sommerpause doch noch zur Verfassungsrichterin wählen wird. Nach der aufgeheizten Debatte der vergangenen Wochen sind Union und SPD inzwischen darum bemüht, die Diskussion um die Kandidatin – mindestens vorerst – im Stillen weiterzuführen.

Weitere kontroverse Debatte eröffnet

Allerdings: Mit ihrem Auftritt bei Markus Lanz hat Brosius-Gersdorf – ob beabsichtigt oder nicht – direkt eine weitere kontroverse Debatte eröffnet, die auch die katholische Kirche wieder auf den Plan rufen dürfte. Als es in der Sendung um die Kritik an ihren Aussagen zu Schwangerschaftsabbrüchen ging, erklärte die an der Universität Potsdam lehrende Staatsrechtlerin nämlich überraschend, dass zwischen ihre Position zu Abtreibungen und die Aussagen zu diesem Thema im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung "kein Blatt" passe.

„Für Frauen in Konfliktsituationen wollen wir den Zugang zu medizinisch sicherer und wohnortnaher Versorgung ermöglichen. Wir erweitern dabei die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung über die heutigen Regelungen hinaus.“

—  Zitat: Aus dem Koalitionsvertrag von Union und SPD

Zur Begründung führte die 54-Jährige aus, dass Union und SPD eine Erweiterung der Kostenübernahme von Schwangerschaftsabbrüchen durch die gesetzliche Krankenversicherung angekündigt hätten. In der Tat steht im Koalitionsvertrag: "Für Frauen in Konfliktsituationen wollen wir den Zugang zu medizinisch sicherer und wohnortnaher Versorgung ermöglichen. Wir erweitern dabei die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung über die heutigen Regelungen hinaus." Brosius-Gersdorf vertrat in der Talksendung die These, dass dies nur bedeuten könne, dass die Bundesregierung Schwangerschaftsabbrüche legalisieren wolle, da die gesetzlichen Krankenversicherungen keine Kosten für rechtswidrige Leistungen übernehmen dürften.

Sollte diese Deutung zutreffen, wäre das ein Paukenschlag – schließlich gilt die Union als Gralshüterin des geltenden strafrechtlichen Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen. Doch ist sie das noch? In seiner Sommerpressekonferenz wurde Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) am vergangenen Freitag auf die Aussagen Brosius-Gersdorfs angesprochen. Merz antwortete, dass das, was in dem Vertrag verabredet worden sei, auch kommen solle. "Da macht niemand Abstriche. Welche Rechtsfolgen das hat, möglicherweise auch auf den Paragrafen 218, kann ich jetzt nicht abschließend beurteilen", so der Kanzler wörtlich. Ob die gegenwärtige Konstruktion im Strafrecht geändert werden müsse, wenn die Koalition im Sozialrecht und dem Krankenkassenrecht etwas ändere, vermöge er im Augenblick nicht zu beantworten.

"Eine Veränderung bei Paragraf 218 ist nicht vereinbart"

Wie eine klare Absage an eine Änderung oder gar Abschaffung des Paragrafen 218 klingt das nicht – auch wenn sich inzwischen einige Unions-Bundestagsabgeordnete bemühen, genau das klarzustellen. "Eine Veränderung bei Paragraf 218 ist nicht vereinbart und stünde im klaren Widerspruch zur Schutzpflicht des Staates gegenüber dem Ungeborenen und zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes", sagte etwa die CDU-Rechtspolitikerin Elisabeth Winkelmeier-Becker der "Welt". Mit der Formulierung im Koalitionsvertrag sei lediglich eine Verbesserung der finanziellen Unterstützung für bedürftige Frauen gemeint. "Bei geringem Einkommen werden die Kosten schon heute von den Bundesländern aus Steuermitteln übernommen. In dem Antragsverfahren sind die Krankenkassen das Scharnier, sie leiten die Anträge an die staatlichen Stellen weiter", so Winkelmeier-Becker. Nichts anderes sei gemeint, wenn von einer Erweiterung der Kostenübernahme die Rede sei.

Bild: ©picture alliance / teutopress (Archivbild)

Die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf bei ihrem Auftritt in der ZDF-Talksendung von Markus Lanz.

In der SPD sieht man das anders. "Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass wir die Kostenübernahme von Schwangerschaftsabbrüchen über die aktuelle Regelung hinaus erweitern. Für mich bedeutet das, dass wir diese zu einer Kassenleistung machen wollen", sagte Rechtsexpertin Carmen Wegge ebenfalls der "Welt". "Dafür wäre es tatsächlich erforderlich, den Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase zu legalisieren, weil rechtswidrige Eingriffe nicht über die Krankenkassen finanziert werden können." Mit ihrem gemeinsamen Gesetzentwurf, Schwangerschaftsabbrüche in der Frühphase zu legalisieren, hätten sich SPD, Grüne und Linke vor der Bundestagswahl zwar nicht durchsetzen können – auch weil die Zeit gefehlt habe. CDU-Chef Merz habe damals aber gesagt, dass er dazu bereit sei, nach der Wahl über eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs zu reden. "Daran werden wir ihn auch messen."

Kirchenvertreter haben im Zuge der Debatte über den Gesetzentwurf in der vergangenen Legislaturperiode wiederholt davor gewarnt, die bestehende Regelung zu Schwangerschaftsabbrüchen zu verändern. Der Paragraf 218 im Strafgesetzbuch habe als gesellschaftlicher Kompromiss eine Befriedung bei diesem Thema gebracht, und es gebe keine Notwendigkeit dafür, diesen Kompromiss zu verändern, sagte etwa der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, im vergangenen Jahr. Grundsätzlich betrachte die katholische Kirche das Leben vom Augenblick der Empfängnis an als schutzwürdig. Diese Schutzwürdigkeit des Lebens werde auch in der Verfassung beschrieben. Daher sei es wohl begründet, diese Schutzwürdigkeit auch im Strafrecht zu positionieren.

Die neue, von Brosius-Gersdorf ausgelöste Debatte verfolgt man in der Kirche deshalb sehr aufmerksam – und mit Sorge. Steht das Abtreibungsverbot trotz der Beteiligung der Union an der Bundesregierung erneut zur Disposition? Viele Kirchenvertreter wollen sich derzeit nicht öffentlich in die Debatte einmischen. Man wolle zunächst abwarten, wie sich die weitere Diskussion zu diesem Thema entwickle, ist zu hören.

„Es ist ja der Eindruck vieler Wähler, dass CDU und CSU sich von einer Partei, die nur noch bei 15 Prozent liegt, am Nasenring durch die Arena führen lassen.“

—  Zitat: Peter Schallenberg

Der Paderborner Moraltheologe Peter Schallenberg aber spricht schon jetzt Klartext: Er halte die Verabredung von CDU, CSU und SPD im Koalitionsvertrag "aus christlicher Sicht für fatal und verheerend", so Schallenberg gegenüber katholisch.de. Die Union komme damit quasi "im Blindflug" denjenigen Kräften entgegen, die das Abtreibungsverbot schon länger gänzlich kippen wollten. Dass die Union dabei offenbar mitmache und sich nach Auskunft des Bundeskanzlers noch nicht einmal über die Konsequenzen für das Strafrecht bewusst sei, sei nicht nachvollziehbar.

Ablehnung von Abtreibungen "kein katholisches Exotikum"

Schallerberg äußert die Vermutung, dass der Lebensschutz vielen in der Union möglicherweise nicht mehr wichtig sei, weil immer mehr Parlamentarier vor allem in der CDU nicht mehr christlich sozialisiert seien. Dabei sei die Ablehnung von Abtreibungen "kein katholisches Exotikum" wie eine Fronleichnamsprozession, sondern zwingend im Naturrecht angelegt. Der Theologe wirft der Union zudem vor: Sie habe sich bei der Formulierung des Koalitionsvertrags von der SPD über den Tisch ziehen lassen. "Es ist ja der Eindruck vieler Wähler, dass CDU und CSU sich von einer Partei, die nur noch bei 15 Prozent liegt, am Nasenring durch die Arena führen lassen." Sollte die Union sich auf Druck der SPD tatsächlich auf eine Änderung oder gar Abschaffung von Paragraf 218 einlassen, werde sich dies seiner Ansicht nach "verheerend" auf die künftigen Wahlergebnisse auswirken. "Wenn der Lebensschutz zur Verhandlungsmasse werden sollte, macht sich eine C-Partei selbst überflüssig."

Schallenberg rät der Union deshalb, den "fatalen Fehler" im Koalitionsvertrag rückgängig zu machen und sich unmissverständlich zum Lebensschutz zu bekennen. "Der Vertrag ist ja nicht vom Himmel oder vom Nachtkästchen der Gottesmutter gefallen – sondern das ist eine Verabredung, die man auch wieder ändern kann", so der Moraltheologe. Wenn die SPD sich dem widersetze und stattdessen mit dem Bruch der Koalition drohe, dann sei das eben so.

Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht (Archivbild)

Die Formulierung im Koalitionsvertrag läuft nach Ansicht des Moraltheologen Andreas Lob-Hüdepohl "keinesfalls zwingend auf eine Legalisierung" von Schwangerschaftsabbrüchen hinaus.

Der Berliner Moraltheologe Andreas Lob-Hüdepohl sieht mit Blick auf den Koalitionsvertrag nicht ganz so schwarz. Zwar sei er kein Jurist, so Lob-Hüdepohl auf Anfrage von katholisch.de. Doch auch als Moraltheologe scheine ihm die Formulierung im Koalitionsvertrag "keinesfalls zwingend auf eine Legalisierung" von Schwangerschaftsabbrüchen hinauszulaufen. Dass für Frauen in Konfliktsituationen der Zugang zu medizinisch sicherer und wohnortnaher Versorgung ermöglicht werde, sei ein Gebot der Fairness. "Die Absicht, die Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenversicherung über die heutigen Regelungen hinaus zu erweitern, ist dagegen ausgesprochen diffus und unpräzise", so der 64-Jährige, der auch lange Jahre Mitglied im Deutschen Ethikrat war.

Nicht nur "mit empörtem Gestus" auf kirchlicher Position beharren

Anders als Peter Schallenberg sieht Lob-Hüdepohl nicht, dass CDU und CSU sich über den Tisch haben ziehen lassen. Die Union sei kein monolithischer Block. Außerdem spiegele die Gesamtpassage des Koalitionsvertrags den derzeitigen Konsens. "Denn dort heißt es: 'Wir wollen Frauen, die ungewollt schwanger werden, in dieser sensiblen Lage umfassend unterstützen, um das ungeborene Leben bestmöglich zu schützen.' Beides, die Unterstützung der Frau auch in einer selbstbestimmten Lösung ihres Konfliktes wie der bestmögliche Schutz des ungeborenen Lebens, sind enthalten", argumentiert Lob-Hüdepohl. Mit dieser Formulierung hätten sogar eher jene das Nachsehen, die das Lebensrecht des ungeborenen Kindes dem Selbstbestimmungsrecht der Frau nachordnen wollten.

Der katholischen Kirche rät Lob-Hüdepohl, gelassen auf die aktuelle Debatte um den Koalitionsvertrag zu reagieren. Allerdings sollten die verschiedenen kirchlichen Akteure nicht nur "mit empörtem Gestus" auf ihrer Position beharren, dass mit der Verschmelzung der Keimzellen der Mensch als Mensch entstehe und er sich nicht erst zum Menschen hin entwickele – und dass sich deshalb das Lebensrecht eines ungeborenen Menschen nicht einfach abstufen lasse. "Sondern sie sollten diese Position mit klugen Argumenten begründen und zu überzeugen suchen. Von solchen Argumenten gibt es eine Reihe. Und sie sind keinesfalls religiöser Natur in dem Sinne, dass man selbst einem Offenbarungsglauben anhängen muss, um sie zu verstehen", so der Theologe.

Von Steffen Zimmermann