Theologin über Missbrauch an Ordensfrauen im deutschsprachigen Raum

Wenn die Oberin der Novizin die Strümpfe anzieht

Veröffentlicht am 16.09.2025 um 00:01 Uhr – Von Madeleine Spendier – Lesedauer: 

Bonn  ‐ Barbara Haslbeck hat eine Studie über sexuellen Missbrauch an Ordensfrauen in Deutschland verfasst. Im Interview mit katholisch.de berichtet die Theologin von den Gesprächen mit Betroffenen und erklärt, wie es zu den Übergriffen gekommen ist. Auch durch Oberinnen.

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Mit 15 Ordensfrauen hat die Wissenschaftlerin Barbara Haslbeck gesprochen. Die Gespräche hat sie kategorisiert und ausgewertet. In ihrer kürzlich herausgegebenen Studie über sexuellen Missbrauch an Ordensfrauen im deutschsprachigen Raum führt sie viele Beispiele an, die deutlich machen, wie es zu den Übergriffen kam und wie die betroffenen Frauen damit umgingen. Im Interview mit katholisch.de geht die Theologin auf die Details ein. 

Frage: Frau Haslbeck, wie erging es Ihnen dabei, als Sie mit Ordensfrauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, gesprochen haben?

Haslbeck: Als Forscherin muss ich korrekt arbeiten und nüchtern auswerten. Aber die schrecklichen Erfahrungen der Interviewpartnerinnen haben mich berührt. Viele Befragte hatten bereits als Minderjährige sexuellen Missbrauch erfahren und dann als Ordensfrauen erneut. In den meisten Fällen waren die Täter deren geistliche Begleiter und Beichtväter. Die Kleriker begründeten die sexuellen Übergriffe als heilsames seelsorgliches Handeln. Zu dem sexuellen Missbrauch kommt oft noch die psychische und spirituelle Manipulation hinzu. Überrascht hat mich, dass sich auch Ordensfrauen bei mir gemeldet haben, die sexuellen Missbrauch durch eine andere Ordensfrau erfahren haben. Dieses Phänomen weiblicher Täterschaft ist bisher noch wenig thematisiert worden.

Frage: Ein Bericht aus Ihrer Studie hat mich nachdenklich gemacht: Eine Oberin zieht der erkrankten Novizin die Strümpfe an, obwohl sie es nicht möchte. Kann das ein typisches Beispiel für Missbrauch sein?

Haslbeck: Es kommt tatsächlich vor, dass Oberinnen Übergriffe als Hilfestellung beim Anlegen der Kleidung kaschieren. Eine Ordensfrau berichtete, dass sie mit der Oberin bei geistlichen Gespräche Hand in Hand spazieren musste. In diesen alltäglichen Situationen nutzen die Vorgesetzten ihre Macht gegenüber den jungen Ordensfrauen aus, um deren Grenzen auszutesten und bewusst zu überschreiten. Da es auf den ersten Blick wie eine gutgemeinte und alltägliche Geste wirkt, können die Betroffenen die Situation schwer durchschauen. Das gehört zum "Grooming" dazu, also zur Anbahnung des Missbrauchs, denn der sexuelle Missbrauch baut sich sehr subtil und langsam auf. Die Betroffenen spüren zwar, dass sie etwas komisch finden, aber sie wollen sich gegenüber der Oberin oder der Novizenmeisterin nicht ungehörig verhalten. Sie stellen sich dann eher selbst in Frage als das Verhalten der Person, die für sie eine Autorität darstellt.

Frage: Sie haben durch Ihre Studie herausgefunden, dass die sexualisierten Übergriffe meist in der Anfangszeit im Orden passieren. Warum ist das so?

Haslbeck: Für viele Befragte beginnt der sexuelle Missbrauch in den ersten Jahren der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft – und der Missbrauch erstreckt sich dann über Jahre. In der Anfangssituation sind sie in mehreren Hinsichten abhängig und unterlegen: Sie sind jung und kennen sich im Leben als Ordensfrau noch nicht so gut aus. Sie sind bereit, für ihre Berufung alles zu geben und auch Einschränkungen anzunehmen. In ihrer Sehnsucht nach einem geistlichen Leben sind diese Frauen besonders leicht instrumentalisierbar durch Personen, die einen Gewinn daraus ziehen, sie von sich abhängig zu machen. Doch diese Frauen machen nichts falsch. Immer wieder begegnet mir das "Victim Blaming", also die Schuldumkehrung, den Frauen wird gesagt, dass sie selbst einen Anteil daran hätten, dass sie zu Opfern geworden sind. Doch das stimmt nicht. Vielmehr besteht die Herausforderung darin, dass in den Gemeinschaften systemische Bedingungen geschaffen werden, die die unterschiedlichen Rollen transparent machen und Manipulation und Willkür verhindern.

Frage: Ordensfrauen sehen sich oft als "Braut Christi" oder als "Magd des Herrn". Können solche Vorstellungen die Übergriffe begünstigen?

Haslbeck: Nicht diese Motive sind die Ursache für den Missbrauch, aber sie wirken ambivalent auf die Interviewpartnerinnen. Einerseits ist es ihnen wichtig, ganz zu Christus zu gehören, andererseits sehen sie diese Ideale durch den Missbrauch beschädigt. Die Betroffenen haben dann den Eindruck, auf dem Weg der Nachfolge zu scheitern. Somit wirkt sich das Ideal auf den Selbstwert der Betroffenen negativ aus. Ähnlich ist es mit anderen spirituellen Idealen wie der Keuschheit oder dem Gehorsam. Diese können zudem von Tatpersonen gezielt benutzt werden, um die Frauen zu etwas zu bringen, was sie eigentlich nicht wollen. Je höher die Ideale liegen, desto wahrscheinlicher ist es, dass diese die Frauen dazu bringen, ihren Selbstwert in Frage zu stellen. Das erhöht das Risiko für Übergriffe gegen die sexuelle und spirituelle Selbstbestimmung.

Bild: ©privat

Die promovierte Theologin Barbara Haslbeck ist Referentin in der Fort- und Weiterbildung in Freising. Sie forscht zu Religiosität nach Missbrauch, spirituellem Missbrauch, Auswirkungen von Missbrauch in Systemen, gehört zum Trägerteam der Initiative "GottesSuche" und ist Mitglied der Forschungsgruppe zu "hidden patterns of abuse" der Universität Regensburg.

Frage: Sie haben herausgefunden, dass sexualisierte Gewalt vor allem in streng reglementierten Gemeinschaften auftritt …

Haslbeck: Ja, solche Gemeinschaften, in denen das Individuum in besonders starker Weise von der Ideologie der Gemeinschaft vereinnahmt wird, nenne ich "Hoch-Risiko-Gemeinschaften". Kennzeichen dafür sind Abschottung von der Außenwelt, starke Kontrolle und Isolierung der Mitglieder sowie zensierte Kommunikation in der Gruppe, kein oder nur wenig Zugang zu Medien, kaum Kontakte nach außen. Solche strengen Gemeinschaftsregeln können bei einzelnen Mitgliedern zu Abhängigkeit und Selbstzweifeln und schließlich zur Aufgabe des eigenen Denkens oder Selbst führen. Das alles macht sexualisierte Übergriffe möglich. Aber auch Frauen aus apostolischen Ordensinstituten, die ich als seriös und liberal bezeichnen würde, berichten von sexuellem Missbrauch. Missbrauch kommt in allen Arten von Gemeinschaften vor.

Frage: Sie betonen in Ihrer Studie, dass die geistliche Begleitung ein Risikoort ist. Inwiefern?

Haslbeck: Geistliche Begleitung schafft ein unkontrolliertes Zweier-Setting, also etwa der Priester und die Ordensfrau sind zusammen in einem Raum. In einem Kloster ist das eigentlich als vorgegebener und geschützter Rahmen gedacht. Die Betroffenen öffnen sich im Gespräch gegenüber der Begleitperson mit ihrem Innersten und werden dadurch manipulierbar. Dabei hat die Begleitperson mehr Erfahrung und Deutungsmacht als die Person, die sich in Begleitung begibt. Mir haben die Frauen erzählt, dass die Begleitpersonen sich gegen Standards in der geistlichen Begleitung verhalten, also indem sie stundenlange Gespräche mit den Frauen in der Nacht führen, diese für sich im Haushalt arbeiten lassen und zusammen mit ihnen in den Urlaub fahren. Der Täter baut sich als eine Person auf, die der Ordensfrau wichtig ist. Er bindet sie mit Komplimenten an sich. Gravierend ist es, wenn der Täter von sich sagt, dass er Jesus darstellt und so die Deutungshoheit über die Frau gewinnt. Das sind narzisstische Selbstverständnisse. So werden die Rollen unklar, auch wenn die Beziehung weiterhin als "geistliche Begleitung" bezeichnet wird, denn die Praktiken wie Beichte und Eucharistiefeiern im privaten Rahmen gehören weiterhin dazu. Eigentlich wäre es wichtig, den Rahmen der geistlichen Begleitung genau abzustecken und zu prüfen, ob die Qualifikation des geistlichen Begleiters überhaupt gegeben ist.

Frage: In der Studie sprechen Sie auch von reproduktiver Gewalt, also die Sorge der Frauen durch den Geschlechtsverkehr mit dem Täter schwanger zu werden...

Haslbeck: Ja, das gehört zu den besonders tabuisierten Aspekten der Studie. Mehrere Frauen sprechen darüber, dass die Angst vor einer Schwangerschaft sie massiv belastete. Keine der sexuell ausgebeuteten Frauen erlebte, dass der Täter mit ihr über die Vermeidung einer Schwangerschaft gesprochen hätte. Eine Frau wird vom Täter aufgefordert, die "Pille danach" zu nehmen. Auch wenn keine der Befragten schwanger wurde, zeigt sich deutlich, wie sehr dieses Thema die Frauen verletzbar machte.

Frage: Sie haben lediglich 15 Ordensfrauen in Deutschland befragt, die sexualisierte Gewalt im Orden erlebt haben. Ist das repräsentativ genug?

Haslbeck: Mit 15 Interviewpartnerinnen liegt in dieser Studie die weltweit größte qualitative Studie zu dem Thema vor. Es haben sich mehr Frauen bei mir gemeldet, aber nicht für jede war die Teilnahme an der Studie passend. Qualitative Forschung ist nie repräsentativ, jedoch stellt sie die typischen Erfahrungen dar. Mir ist wichtig deutlich zu machen: Auch im deutschsprachigen Raum gibt es den sexuellen Missbrauch an Ordensfrauen. Es ist nicht nur ein Problem in afrikanischen oder asiatischen Ländern. Die Muster sind ähnlich. Die Dunkelziffer ist überall hoch, denn Scham- und Schuldgefühle erschweren es den Frauen erheblich, darüber zu sprechen. Ein Austritt aus der Gemeinschaft kann für Betroffene befreiend sein. Manche leben mit dem Erlittenen weiterhin im Orden. Mein ganzer Respekt gilt den Frauen, die die Kraft und den Mut haben, über den erlittenen Missbrauch zu reden, gegen viele Widerstände. Durch ihr Reden tragen sie dazu bei, dass Missbrauch erkannt und verhindert werden kann.

Von Madeleine Spendier

Buch und Buchvorstellung

Die Studie "Sexueller Missbrauch an Ordensfrauen im deutschsprachigen Raum - Ein unterschätztes Phänomen und seine systemischen Bedingungen" von Barbara Haslbeck ist 2025 im Verlag Herder erschienen und hier online abrufbar. 

Bei einer digitalen Buchvorstellung, die per Zoom am 18.9.2025 stattfinden soll, stellt Barbara Haslbeck wesentliche Ergebnisse ihrer Untersuchung vor. Hier finden Sie mehr Informationen. Online-Buchvorstellung: Sexueller Missbrauch an Ordensfrauen im deutschsprachigen Raum