Bezugnahme auf umstrittene Personalentscheidung in Südtirol

Theologe: Kirche muss "dreckige Realität" von Missbrauch anerkennen

Veröffentlicht am 15.09.2025 um 12:17 Uhr – Lesedauer: 

Bozen ‐ Nach der Rücknahme einer Personalentscheidung im Bistum Bozen-Brixen mahnt Theologe Martin Lintner mehr Transparenz an. Die Kirche müsse lernen, ihre "dreckige Realität" im Zusammenhang mit Missbrauch anzuerkennen.

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Der Moraltheologe Martin M. Lintner warnt im Umgang mit Missbrauchsfällen davor, persönliche Einschätzungen über rechtsstaatliche Urteile zu stellen. Lintner äußerte sich am Montag im Interview mit der "Neuen Südtiroler Tageszeitung". Anlass ist eine umstrittene Personalentscheidung in Südtirol.

Bischof Ivo Muser hatte Anfang September einen Priester, der in einem diözesanen Missbrauchsgutachten belastet wurde, auf eine Seelsorgestelle versetzt. Nach heftiger Kritik nahm er die Entscheidung zurück und sprach von einer "Fehlentscheidung". Der Geistliche war 2009 wegen Verjährung strafrechtlich freigesprochen, später aber zivilrechtlich zu Schadensersatz verpflichtet worden. Vorerst wird er keine seelsorglichen Aufgaben übernehmen.

Gegen Rücktrittsaufforderungen

Kein Verständnis hat Lintner vor dem Hintergrund des laufenden Aufarbeitungs- und Präventionsprozesses in der Diözese Bozen-Brixen hingegen für in Form einer Petition kursierende Rücktrittsaufforderungen an Bischof Muser, auch wenn dieser immer wieder ambivalente Entscheidungen getroffen habe. Er könne Unmut und Schmerz sowie die Kritik in der aktuellen Krise "sehr gut nachvollziehen", so Lintner. Die Zivilgesellschaft schaue heute genau hin und lasse Missstände nicht mehr gelten.

Es sei in der Diözese Bozen-Brixen aber nicht zutreffend, "dass heute Täter wie früher einfach in eine andere Pfarre versetzt werden, damit sie ungeschoren bleiben". Auch glaube er dem Diözesanbischof, dass dieser es mit Aufarbeitung und Prävention ernst meine, so Lintner. "Mein Anliegen ist, dass andere Diözesen nicht abgeschreckt werden. Wenn hier nur Köpfe von Verantwortlichen rollen, werden andere Diözesen nicht nachfolgen. Deshalb habe ich mich gegen die Petition und die Rücktrittsforderungen gewandt." Lintner verwies darauf, dass in der Südtiroler Kirche neben dem Missbrauchsgutachten, das "ein dunkles Kapitel akribisch beleuchtet" habe, zahlreiche Maßnahmen in Richtung der Aufarbeitung und Prävention von Missbrauch getroffen worden seien: "In anderen Diözesen werden solche Prozesse auch von oben blockiert. In der unsrigen ist das nicht der Fall."

Mehr Transparenz gefordert

Lintner forderte, dass sich kirchliche Verantwortungsträger konsequent an rechtsstaatlichen Maßstäben und Urteilen orientieren. "Deshalb wäre es angemessen und richtig, Entscheidungen auf dieser Grundlage zu treffen – und zwar ausschließlich auf dieser Grundlage." Im konkreten Fall hätte das Bistum Bozen-Brixen die im Gutachten belasteten Kleriker sofort vom Seelsorgedienst suspendieren müssen.

Zwar gebe es Fortschritte bei Prävention und Aufarbeitung, so Lintner. Doch brauche es mehr Transparenz in Personalentscheidungen. "In Zukunft muss die Öffentlichkeit viel offensiver und transparenter über die einzelnen Schritte informiert werden. Und auch intern braucht es bessere Absprachen." Darüber hinaus mahnte Lintner eine schonungslose Selbstsicht der Kirche an: Verantwortungsträger müssten die "dreckige Realität" anerkennen, "dass die Kirche als Struktur Missbrauch ermöglicht hat". (fxn/KNA)

15.9., 20:09 Uhr: Ergänzt um Position zu Rücktrittsforderungen.