Schatz moderner Gotteshäuser müsse erst noch entdeckt werden

Theologe: Verlust von Nachkriegskirchen wäre auch liturgisches Problem

Veröffentlicht am 13.10.2025 um 00:01 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Trier ‐ Nach 1945 erlebte der Kirchenbau in Deutschland einen Boom. Der Theologe Andreas Poschmann erklärt im katholisch.de-Interview, warum Nachkriegskirchen heute oft wenig geliebt werden, welche liturgischen Ideen sie prägen und warum ihr Verlust durch Profanierung und Abriss ein Problem wäre.

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Nachkriegskirchen sind für viele Menschen ein eher hässliches Relikt der 1950er- und 1960er-Jahre. Doch diese Gotteshäuser sind mehr als Beton und Glas: Sie spiegeln unter anderem die Liturgiereformen des Zweiten Vatikanischen Konzils wider und erzählen von Gemeinden, die nach dem Krieg neu zusammenwuchsen. Der Theologe Andreas Poschmann, der vor einigen Jahren das Projekt "Straße der Moderne" für Kirchenbauten des 20. und 21. Jahrhunderts initiiert hat, erklärt, warum Nachkriegskirchen heute oft unterschätzt werden – und warum ihr Verlust ein kulturelles und liturgisches Problem wäre.

Frage: Herr Poschmann, wie bedeutsam war die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg für den Kirchenbau in Deutschland?

Poschmann: Das war eine absolute Boomzeit, weil viele Kirchen im Krieg vollständig zerstört worden waren. Verstärkt wurde der Bedarf an neuen Gotteshäusern zudem durch die gut zwölf Millionen Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, die vor allem die religiöse Landkarte der späteren Bundesrepublik umfassend veränderten: in traditionell katholischen Gegenden siedelten nun auch Protestanten an, in traditionell protestantischen Gegenden auch Katholiken. Dadurch entstanden viele neue Gemeinden, die neue Kirchen brauchten. Das feuerte den kirchlichen Bauboom nach dem Zweiten Weltkrieg zusätzlich an.

Frage: Die nach dem Krieg gebauten Kirchen unterscheiden sich meist deutlich von älteren Gotteshäusern. Welche Leitideen prägten die kirchliche Architektur und Gestaltung nach 1945?

Poschmann: Die Entwicklung begann schon früher: In den 1920er-Jahren wandte man sich von Neogotik und Neoromanik ab und suchte nach neuen Formen. Ein Meilenstein diesbezüglich war etwa die Aachener Kirche St. Fronleichnam von Rudolf Schwarz. Nach dem Krieg setzte sich dieser moderne Ansatz fort und wurde durch die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils nochmals bestärkt. Gotteshäuser sollten danach nicht mehr in erster Linie die hierarchische Gliederung abbilden, sondern die Gemeinschaft der Gläubigen sichtbar machen. Der Altar rückte in die Mitte der Kirche, und die Gläubigen konnten sich durch die Anordnung der Kirchenbänke um den Altar herum plötzlich in die Augen schauen, statt wie in einem Bus nur hintereinander zu sitzen. Viele Gläubige empfanden das als Fortschritt und Stärkung des Gemeinschaftserlebnisses.

Frage: Haben Sie aus dieser Epoche des Kirchenbaus eine Lieblingskirche?

Poschmann: Mich fasziniert die Heilig-Kreuz-Kirche in Mainz. Sie wurde in den 1950er-Jahren gebaut und hat einen klaren, zentralen Versammlungsraum. Der Architekt Richard Jörg hatte zuvor den Wiederaufbau des Mainzer Stadttheaters – des heutigen Staatstheaters – geleitet und hat sich bei der anschließenden Planung der Kirche erkennbar vom Theaterbau inspirieren lassen. Das aus meiner Sicht Spannendste: Man kommt von der Seite in den kreisförmigen Kirchenraum hinein und muss sich quasi umwenden, um zum Altar zu gelangen – schon der Eintritt beinhaltet also eine Umkehrbewegung. Ich habe dort schon mehrfach Gottesdienste mitgefeiert und finde den Raum sehr eindrücklich.

„Beton, Glas und Stahl wirken auf viele Menschen nüchtern, kalt und wenig einladend – vor allem im Vergleich mit einer gotischen oder barocken Kirche.“

—  Zitat: Andreas Poschmann

Frage: Heute haben viele Nachkriegskirchen nicht den besten Leumund. Während gotische und barocke Kirchen meist bewundert und als schön empfunden werden, gelten Kirchenbauten aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund ihrer Architektur und der verwendeten Baumaterialien vielen Menschen als hässlich und verzichtbar. Wie beurteilen Sie das?

Poschmann: Mein Eindruck ist auch, dass die Kirchen der Nachkriegszeit weniger geschätzt werden. Deshalb haben wir auch vor einigen Jahren das Projekt "Straße der Moderne" gestartet, um herausragende Kirchen der vergangenen 100 Jahre bekannter zu machen und zu einer größeren Wertschätzung dieser Gotteshäuser beizutragen. Natürlich gibt es auch in dieser Epoche eine große Bandbreite an Kirchen: nicht nur architektonische Meisterwerke, sondern auch eher schlichte Zweckbauten. Dass heute auch weniger gelungene Nachkriegskirchen noch stehen, weil sie – Gott sei Dank – nicht durch einen Krieg zerstört wurden, prägt das Bild dieser Epoche des Kirchenbaus mit. Hinzu kommen die verwendeten Materialien: Beton, Glas und Stahl wirken auf viele Menschen nüchtern, kalt und wenig einladend – vor allem im Vergleich mit einer gotischen oder barocken Kirche. Wobei dieser Vergleich eigentlich unfair ist.

Frage: Warum?

Poschmann: Unser Bild früherer Epochen des Kirchenbaus wird maßgeblich dadurch beeinflusst, dass heute vor allem noch die architektonischen Glanzlichter dieser Epochen existieren. Wer an die Gotik denkt, hat sofort herausragende Kathedralen wie den Kölner Dom vor Augen. Dabei bedeutet "Gotik" übersetzt so viel wie "fremdartig" und "barbarisch" – der Begriff war also einst ein Schimpfwort! Insbesondere in der Renaissance hatte man für gotische Architektur wenig übrig, ganz anders als heute. Das zeigt, dass der Blick auf Architektur sich im Laufe der Zeit verändert und auch dem Zeitgeist unterliegt. Ich bin mir sehr sicher, dass sich auch der Blick auf die Nachkriegskirchen wandeln wird und wir immer mehr den architektonischen Schatz dieser Kirchen zu schätzen lernen werden. Dies ist auch eine Frage des zeitlichen Abstands.

Frage: Die Kirchen in Deutschland schrumpfen. Als eine Folge davon müssen zunehmend Kirchen aufgegeben werden – oftmals trifft es dabei Nachkriegskirchen. Droht diese Epoche des Kirchenbaus zu verschwinden?

Poschmann: Ganz verschwinden wird sie nicht, aber es könnte schon zu erheblichen Verlusten kommen. In Regionen mit vielen Kirchen aus früheren Epochen werden Nachkriegskirchen vermutlich eher aufgegeben – auch, weil sie oftmals eher in Außenbezirken stehen und sich schrumpfende Kirchengemeinden auf die Stadtzentren konzentrieren. Hinzu kommt: Viele Nachkriegskirchen müssen nun erstmals umfassend saniert werden. Da stellt sich schnell die Frage: "Können und wollen wir uns das leisten?"

Bild: ©privat

Der Theologe Andreas Poschmann arbeitet am Deutschen Liturgischen Institut in Trier.

Frage: Wäre der großflächige Verlust von Nachkriegskirchen durch Profanierung oder gar Abriss auch ein kulturelles und liturgisches Problem?

Poschmann: Ja, absolut. Jede dieser Kirchen ist ein Glaubenszeugnis, oft von Gemeinden mit großem Engagement errichtet. Viele Gläubige haben selbst mitgebaut. Das einfach "plattzumachen", wäre nicht nur für die Kirche, sondern für die gesamte Gesellschaft ein Verlust. Außerdem sind die Nachkriegskirchen oft schon für die nachkonziliare Liturgie entworfen worden. Wenn man sie abreißt, zerstört man auch die gebaute Liturgiereform. Natürlich brauchen wir nicht jede Kirche, und nicht jede ist architektonisch hochwertig. Aber bei Entscheidungen über die Profanierung oder gar den Abriss einer Kirche sollten unbedingt auch baugeschichtliche und liturgische Aspekte berücksichtigt werden.

Frage: Haben Sie einen Überblick, wie viele Nachkriegskirchen bereits verloren gegangen sind?

Poschmann: Nein, konkrete Zahlen dazu wurden meines Wissens bislang noch nicht veröffentlicht. Vor gut 20 Jahren haben wir im Auftrag der Liturgiekommission der Deutschen Bischofskonferenz mal die Bistümer befragt, wie viele Kirchen sie in den kommenden zehn Jahren voraussichtlich profanieren werden. Diese Befragung hat damals nicht viel erbracht, weil Profanierungen damals noch ein ziemliches Tabuthema waren. Das ist heute anders, weil es gar nicht mehr anders geht. Wie viele Kirchen gerade aus der Nachkriegszeit aufgegeben wurden und dadurch verloren gegangen sind, weiß ich aber, wie gesagt, nicht.

Frage: Manche Kirchen, die profaniert werden, erleben neue Nutzungen – als Bibliotheken, Wohnungen oder sogar Kletterhallen. Ist das aus Ihrer Sicht ein guter Weg, um eine nicht mehr für die Liturgie benötigte Kirche zumindest als Bauwerk zu erhalten?

Poschmann: Wenn es nur vorübergehend ist und die Umnutzung rückbaubar bleibt, kann das eine Lösung sein, um ein Gebäude zu erhalten. Aber solche Umnutzungen haben natürlich etwas von einem Etikettenschwindel: Von außen sieht es zwar weiterhin wie eine Kirche aus, im Inneren findet man aber keinen Sakralraum mehr vor. Ein aus meiner Sicht problematisches Beispiel ist die Dreifaltigkeitskirche in Münster, die heute Büros und Wohnungen beherbergt. Dort verweist sogar noch eine Bushaltestelle auf die "Dreifaltigkeitskirche", obwohl keinerlei sakraler Bezug mehr existiert. Da würde ich mir mehr Sensibilität wünschen und die Möglichkeit, dass auch an profanierten Kirchen zumindest kleine Freiräume des Gebets erhalten bleiben. Auch dafür gibt es Beispiele, die Suche nach guten Lösungen ist immer noch am Anfang. Aber es gibt schon eine Reihe von Initiativen – nicht nur seitens der Denkmalpflege oder des Evangelischen Kirchbautags. Die Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst hat sich im Lauf ihrer Geschichte immer wieder mit Fragen des Kirchenbaus beschäftigt: in diesem Jahr mit einer Ausstellung und Publikation zur architektonischen Transformation sakraler Räume unter dem Titel "Ressource, Research, Reset". Nicht zuletzt erwähnen möchte ich auch wissenschaftliche Projekte wie die Forschungsgruppe Sakralraumtransformation an der Universität Bonn unter der Leitung von Albert Gerhards. Oder das Kirchenmanifest, das im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, um die Problematik in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen und für bürgerschaftliches Engagement zu sensibilisieren. Voraussetzung dafür ist aber auch, dass Kirchen zugänglicher werden und offen sind.

Von Steffen Zimmermann