Kohlgraf: Glaubenszeugnis im Alltag ist Schlüssel zur Evangelisierung

Kirche auf dem Rückzug? Für den Mainzer Bischof Peter Kohlgraf ist das keine unvermeidbare Folgerung aus Studien wie der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU). Diese beschreibt zwar schonungslos, was in den nächsten Jahrzehnten auf die Kirche in Deutschland zukommt. Sich daher in eine "Sonderwelt" zurückziehen, sei aber kein Konzept, betont der Vorsitzende der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) im Interview mit katholisch.de. Er spricht über die Chancen von Glaubensweitergabe in säkularer Umgebung, die Bedeutung der Arbeit an kirchlichen Strukturen – und mahnt: (Neu-)Evangelisierung ist nicht nur als Weitergabe der kirchlichen Lehre zu verstehen.
Frage: Herr Bischof, blickt man auf die Erkenntnisse der KMU, steht die Kirche in Deutschland vor einer herausfordernden Zukunft. Was bedeutet das für die Bemühungen um Glaubensweitergabe oder (Neu-)Evangelisierung?
Kohlgraf: Gerade dann ist Evangelisierung möglich. Die Kirche hat klein angefangen – in einer Welt, die mit ihrer Botschaft auch nichts anfangen konnte. Da ging es nicht darum, im Sinne einer Marktlogik einfach Anknüpfungspunkte zu finden, sondern man hat den Gekreuzigten verkündet. Das hat viele Menschen überzeugt. Genauso überzeugend war das Leben der Christinnen und Christen in der frühen Zeit. Sowas ist zwar nie eins zu eins übertragbar, aber: Die Glaubwürdigkeit von Menschen, die an Christus glauben, ist eines der wichtigsten Zeugnisse für unsere Gesellschaft.
Frage: Bei einem Pressegespräch zu diesem Themenfeld während der DBK-Herbstvollversammlung in Fulda wurde ins Spiel gebracht, auf Gott zu warten, der in das Leben der Menschen "einbricht", und daraufhin Deutungskonzepte anzubieten. Wie passt das mit dem Missionsauftrag zusammen?
Kohlgraf: Ich würde das eine nicht gegen das andere ausspielen. Beides ist gleich wichtig. Gott hat Menschen immer aktiv berufen – oder, anders gesagt, aus ihrem Alltag geholt. Ich denke an den Apostel Paulus oder den heiligen Franziskus. Diese Erfahrungen haben deren Leben auf den Kopf gestellt. Sie sind in eine ganz neue Form der Nachfolge gekommen. Sowas kann es heute auch geben, aber das lässt sich nicht erzwingen. Trotzdem sollten wir nicht nur hinterher deuten. Unsere Aufgabe sehe ich darin, den Boden zu bereiten, dass überhaupt ein Samen irgendwo hinfallen kann. Der gelebte Alltag bietet viele Chancen, das Evangelium praktisch erfahrbar zu machen.
Frage: Wo sehen Sie da Chancen?
Kohlgraf: Wir haben unsere Kitas, unsere Schulen, die Bildungsarbeit, wir haben verschieden Formen von Gottesdiensten. Das alles sind Möglichkeiten, zu zeigen, dass der christliche Glaube keine Sonderwelt ist, die sich in sich verschließt. Sondern dass die Kirche – auch wenn ich die Marktlogik nicht in den Vordergrund stelle – etwas zu bieten hat, bei dem die Menschen merken, dass es etwas mit ihrem Leben zu tun hat. Diese Verknüpfung müsste man machen. Das geht nicht nur über gute Erklärungen, sondern über Erfahrungsräume und Begegnung.
Hat die Kirche in Deutschland die Katechese vernachlässigt? "Den Schuh ziehe ich mir persönlich nicht an. Ich denke, so geht es auch vielen, die in den vergangenen Jahrzehnten in der Verkündigung tätig waren", sagt Bischof Kohlgraf.
Frage: Es gibt Strömungen in der Kirche, die sagen: Dass wir jetzt dort sind, wo wir stehen, liegt auch daran, dass wir jahrelang eine ordentliche Katechese vernachlässigt haben. Jetzt bräuchte es wieder verstärkt die Vermittlung der Lehre. Wie stehen Sie dazu?
Kohlgraf: Ich glaube nicht, dass Menschen wirklich zum Glauben finden, nur indem man ihnen die Glaubenslehre erklärt. Kommunion- oder Firmkatechese etwa gelingt nur, wenn bestimmte Erfahrungen von Kirche vorliegen oder gemacht werden. Dass wir wirklich die Katechese vernachlässigt haben, finde ich nicht. Ich bin jetzt 32 Jahre im kirchlichen Dienst. Den Schuh ziehe ich mir persönlich nicht an. Ich denke, so geht es auch vielen, die in den vergangenen Jahrzehnten in der Verkündigung tätig waren. Wir merken jedoch, dass die, die in der Erziehung oder Pädagogik tätig sind, manchmal selbst nicht mehr sprachfähig sind. Auf dieser Ebene bräuchte es einen tieferen Zugang zu den Inhalten.
Frage: Es wirkt oft so, dass Gemeinschaften, die sich explizit der Neuevangelisierung verschreiben und kirchenpolitisch eher konservativ sind, mit ihren Angeboten mehr erreichen als klassische katholische Verbände oder Pfarreien. Wie bewerten sie das?
Kohlgraf: Zunächst: Diese Gemeinschaften darf es geben. Ich kann mich auch freuen, dass sie Zulauf haben. Aber prozentual gesehen ist deren Reichweite nicht so, dass sie das absolute Erfolgskonzept haben. Dieses Argument höre ich auch immer im Blick auf die Tridentinischen Messen: Da sei die Kirche voll, da seien junge Leute. Aber verglichen mit 600.000 Katholiken – ich sage das jetzt für das Bistum Mainz – sind diese Gruppen quantitativ nicht die maßgeblichen.
Frage: Gerade (Neu-)Evangelisierung scheint innerkirchlich ein Kampfbegriff geworden zu sein. Wie lässt sich das wieder auf eine gemeinsame Basis stellen?
Kohlgraf: Tatsächlich ist es zuweilen zu einem Kampfbegriff geworden. Ich finde, der Begriff Neuevangelisierung insinuiert, dass es einst so etwas wie einen idealen Endzustand von Evangelisierung gab. Da setze ich meine Fragezeichen dahinter. Nur dass die Kirchen voll sind, sagt ja nichts über persönliche Glaubenssituationen. Ich denke an meinen Großvater, der sicher fromm war und seinen Glauben lebte. Aber er hätte mit manchen Begriffen oder Vorstellungen von Neuevangelisierungsgruppen nichts anfangen können. Ich weiß nicht, ob er sich in einer "Christusfreundschaft" gesehen hätte. Solche fast intimen Glaubensaussagen habe ich von ihm nicht gehört. Das war natürlich nicht die Generation, die das so formuliert hat. Aber er war sicherlich evangelisiert. Evangelisierung ist für jeden eine Aufgabe – und zwar jeden Tag. Neuevangelisierung transportiert immer eine Vorstellung, dass da eine Gruppe loszieht, die das Evangelium besitzt – und weiß, wie es geht. So einfach geht das nicht.
„Neuevangelisierung transportiert immer eine Vorstellung, dass da eine Gruppe loszieht, die das Evangelium besitzt – und weiß, wie es geht. So einfach geht das nicht.“
Frage: Aus der Weltkirche hört man immer der Vorwurf, die Kirche Deutschland evangelisiere nicht. Was würden Sie dagegenhalten?
Kohlgraf: Auch da ist die Frage, was man unter Evangelisierung versteht. Ich kann den Begriff als reine Instruktion verstehen. Aber auch die Arbeit an einer glaubwürdigen Gestalt der Kirche ist Evangelisierung. Am Studientag der Vollversammlung zur KMU-Studie war auch von der Sakramentalität der Kirche die Rede. Ein Sakrament muss auch als Heilszeichen erkennbar sein. Wenn Strukturen der Kirche Menschen eher vom Glauben wegführen oder ihn verdunkeln, ist eine Form der Evangelisierung auch, sich den Strukturen zuzuwenden, damit das Evangelium wieder strahlen kann.
Frage: Das ist das, was der Synodale Weg versuchen wollte ...
Kohlgraf: Ob dessen Themen dafür die entscheidenden sind, darüber kann man sicher unterschiedlicher Meinung sein. Aber ich wehre mich dagegen, Inhalt und Struktur gegeneinander auszuspielen. Beides hat miteinander zu tun. Wenn wir feststellen, dass etwa Themen wie Geschlechtergerechtigkeit oder Sexualmoral im Kontext des Evangeliums neu bewertet werden müssen, sollten wir dies angehen. Dass es nicht bei Strukturdebatten bleiben darf – da sind wir uns in Deutschland alle einig.
Frage: Wird in Deutschland zu viel über Struktur diskutiert?
Kohlgraf: Es ist schon wichtig, dass wir verstärkt mit einer Hoffnungsbotschaft an die Öffentlichkeit gehen. Eines ist sicher richtig: Die Texte des Synodalen Weges haben einen relativ negativen Einschlag. Das liegt natürlich am Hintergrund der Missbrauchsaufarbeitung. Aber wir müssen als Kirche in Deutschland wieder positiver formulieren, wofür wir stehen.
Auch die Arbeit an einer glaubwürdigen Gestalt der Kirche sei Evangelisierung, sagt Bischof Kohlgraf. Genau das war das Anliegen des Synodalen Wegs.
Frage: Die Kirche in Frankreich muss auch einen schlimmen Missbrauchsskandal aufarbeiten. Dort wird zumindest öffentlich die geltende kirchliche Lehre in manchen Punkten nicht so kritisch in Frage gestellt wie in Deutschland. Dennoch gibt es dort im westeuropäischen Vergleich die höchste Zahl an Erwachsenentaufen. Macht Sie das nachdenklich?
Kohlgraf: Wir nehmen diese Entwicklungen sehr genau wahr. Sie betreffen nicht nur Frankreich, auch wenn die Zahlen dort am deutlichsten ins Auge springen, sondern weitere europäische Länder wie die Niederlande, Belgien oder England. Unsere Nachbarn können die Zunahme der Erwachsenentaufen selbst nicht richtig erklären. Wir wollen jedoch den Austausch suchen, uns vernetzen, Erfahrungen auswerten und schauen, was wir in Deutschland daraus lernen können. Deshalb steht das Thema sowohl für die Arbeitsgruppe "Evangelisierung und Katechese" der Pastoralkommission als auch für die Jugendkommission auf der Agenda.
Frage: Es braucht in dieser Zeit Menschen, die überzeugt ihren Glauben ins Gespräch bringen. Wie genau geht das?
Kohlgraf: Ich merke gerade, dass in den klassischen kirchlichen Vollzügen das Ehrenamt ziemlich am Limit seiner Möglichkeiten ist. Wir müssen das Glaubenszeugnis alltäglicher machen. Es soll normal sein zu sagen: Ich lebe als christlicher Mensch in einer säkularen Welt und mache daraus kein Geheimnis. Und dann braucht es ein bisschen Fingerspitzengefühl, wie Benedikt XVI. in "Deus caritas est" formulierte: Es gibt Situationen wo es gut ist, von Christus zu sprechen, und es gibt Situationen, wo es auch gut ist, zu schweigen. Ich kann von meinem Glauben erzählen, ihn anbieten.
Frage: Wie blicken Sie in die Zukunft der Kirche in Deutschland?
Kohlgraf: Ich neige nicht dazu, mir die Wirklichkeit rosarot auszumalen. Aber ich bekomme jeden Tag auch die positiven Seiten von Kirche zu spüren. Das macht mir Mut. Ich wäre erst dann frustriert, wenn ich Kirche als eine Sonderwelt verstünde, die immer kleiner wird – und am Ende hockt man zusammen und bedauert sein Schicksal. Wenn wir uns wirklich als Teil dieser Gesellschaft verstehen und sagen, wir haben ihr auch etwas zu geben, motiviert das. Von einem "Heiligen Rest" halte ich nichts. Ich wünsche mir eine Kirche, die wirklich offen ist für alle. Das heißt nicht, dass alles gutgeheißen werden muss. Aber dass Menschen erfahren dürfen, dass sie willkommen sind – mit ihren Anfragen und Themen.