So geht es nach dem Egenberger-Urteil weiter

Arbeitsrechtler: Bundesverfassungsgericht bleibt kirchenfreundlich

Veröffentlicht am 08.11.2025 um 12:00 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Bochum ‐ Wann Kirchen von Mitarbeitern verlangen dürfen, selbst der Kirche anzugehören, hat das Bundesverfassungsgericht nun geklärt. Aber es bleiben noch viele Baustellen für die Kirche und ihr Arbeitsrecht, erklärt der Arbeitsrechtler Jacob Joussen im katholisch.de-Interview.

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Kirchen dürfen auch weiterhin manche Stellen an die Zugehörigkeit zur Kirche knüpfen – sie müssen es aber gut begründen können: Das hat das Bundesverfassungsgericht in dem Fall "Egenberger" entschieden, der seit Jahren Gerichte in Deutschland und der EU beschäftigt. Die konfessionslose Sozialpädagogin Vera Egenberger hatte gegen die Diakonie geklagt, weil sie nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde. Das Bundesarbeitsgericht und der Europäische Gerichtshof hatten Egenberger grundsätzlich Recht gegeben – das Bundesverfassungsgericht machte dagegen das Selbstbestimmungsrecht der Kirche stark. Was die Entscheidung für das kirchliche Arbeitsrecht bedeutet und wo es in Zukunft noch arbeitsrechtliche Baustellen für die Kirchen gibt, erläutert der Bochumer Professor für Arbeits- und Sozialrecht und Experte für kirchliches Arbeitsrecht Jacob Joussen im Interview mit katholisch.de.

Frage: Professor Joussen, die Gewerkschaften freuen sich über Prüfungsmaßstäbe, die Kirche über die Bestätigung ihres Selbstbestimmungsrechts – das klingt nach einem salomonischen Urteil. Wie bewerten Sie die Entscheidung?

Joussen: Salomonisch trifft es: überraschend, aber salomonisch. Das Bundesverfassungsgericht hat es vermieden, sich mit dem Europäischen Gerichtshof anzulegen und hat beiden Seiten etwas gegeben.

Frage: Warum hat Sie die Entscheidung überrascht?

Joussen: Die Tendenz in der Rechtsprechung der vergangenen Jahre ging eher in eine andere Richtung. Das Bundesverfassungsgericht äußert sich sehr selten zu Fragen des kirchlichen Arbeitsrechts, vielleicht alle zehn oder zwanzig Jahre. Deshalb war hier offen, ob es seine kirchenfreundliche Linie beibehält. Die anderen Gerichte, vor allem das Bundesarbeitsgericht und der Europäische Gerichtshof, hatten in den letzten Jahren eher die Tendenz, die Rechte der Kirchen einzuschränken.

Experte für kirchliches Arbeitsrecht: Jacob Joussen lehrt an der Ruhr-Universität Bochum.
Bild: ©RUB, Marquard (Archivbild)

Jacob Joussen ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Arbeits- und Sozialrecht. Zu seinen Schwerpunkten gehört das kirchliche Arbeitsrecht.

Frage: Zum Konflikt mit dem Europäischen Gerichtshof und seiner eher laizistischen Rechtsprechung hat es das Bundesarbeitsgericht also nicht kommen lassen. Brauchte es dafür eine Änderung in der Karlsruher Linie zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen?

Joussen: Wenn man sich genau anschaut, was das Urteil aussagt, bleibt das Gericht bei seiner bisherigen Linie: Im Ergebnis ist das Bundesverfassungsgericht weiterhin darum bemüht, die Rechte der Kirchen aus unserer Verfassung nicht zu stark einzuschränken. Gleichzeitig hat es alles daran gesetzt, das so zu begründen, dass es nicht zu einem Konflikt mit dem Europäischen Gerichtshof kommt.

Frage: Was bedeutet die Entscheidung nun in der Praxis: Was hat das Bundesverfassungsgericht den Kirchen aufgegeben? Wie müssen kirchliche Arbeitgeber plausibel machen, dass eine Kirchenmitgliedschaft für eine Stelle notwendig ist?

Joussen: Das ist ein Streit, den es seit dem Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gibt. Es geht immer darum, ob die Kirchen rechtfertigen können, nach der Religion unterscheiden zu dürfen. Das hängt davon ab, ob sie ausreichend plausibel machen können, dass das in einem konkreten Fall ihr religiöses Selbstverständnis berührt. Wenn das gelingt, dann können sie auch nach der Religionszugehörigkeit differenzieren, anders als nicht-kirchliche Arbeitgeber. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt den Kirchen jetzt auf, bei einer Stelle nachvollziehbar, also von außen überprüfbar, deutlich zu machen, ob eine bestimmte Religion wesentlich für eine Tätigkeit ist.

Frage: Das scheint gerade im Fall Egenberger eine Frage der Perspektive zu sein: Es ging um eine befristete Stelle in einem Forschungsprojekt zu Antirassismus. Einerseits könnte man sagen, das ist eine Aufgabe, wie sie jede NGO erfüllen könnte. Andererseits könnte man sagen, dass es hier um eine Anwendung der Sozialethik der Kirche geht. Was ist plausibler?

Joussen: Das ist der entscheidende Punkt, und da kann man tatsächlich unterschiedlicher Auffassung sein. Da sind die Richterinnen und Richter in Karlsruhe anderer Auffassung als die in Erfurt beim Bundesarbeitsgericht. Die einen sagen, die Stelle ist nah am Verkündigungsauftrag, daher greift das Selbstbestimmungsrecht in der Weise, dass die Kirchen entscheiden können, ob sie die Mitgliedschaft verlangen können. Das Bundesarbeitsgericht konnte bei dieser Stelle im Fall Egenberger eine solche Nähe nicht erkennen. Diese unterschiedlichen Einschätzungen werden auch weiterhin bleiben: Man kann eben nicht in letzter mathematischer Genauigkeit sagen, ob es jetzt so oder so ist. Das müssen letzten Endes im Streitfall Gerichte entscheiden. Kirchliche Arbeitgeber müssen damit jetzt immer sehr sorgfältig begründen, wenn sie nach Zugehörigkeit unterscheiden.

Die Grundordnung des kirchlichen Dienstes wurde 2022 reformiert
Bild: ©katholisch.de/fxn

Die Grundordnung des kirchlichen Dienstes wurde 2022 reformiert. Das Arbeitsrecht der katholischen Kirche in Deutschland wurde damit deutlich liberalisiert. Insbesondere spielen damit private Lebensumstände in der Regel keine Rolle mehr für das Arbeitsverhältnis.

Frage: Der eigentliche Fall Egenberger ist lange her, seither ist viel im kirchlichen Arbeitsrecht passiert: Die katholische Kirche hat eine neue Grundordnung des kirchlichen Dienstes, die EKD eine neue Mitarbeitsrichtlinie. Beide Kirchen haben ihr Arbeitsrecht deutlich liberalisiert. Sind überhaupt noch weitere Konflikte zu erwarten? Oder geht die neue kirchliche Rechtslage dem aus dem Weg?

Joussen: In dem speziellen Fall hätte man heute wohl anders gehandelt. Aber es wird auch weiterhin in Grenzfragen zu neuen Problemen kommen. Daher sind die Leitlinien des Bundesverfassungsgerichts, wie man solche Probleme löst, auch für die Praxis hilfreich. Was man nicht unterschätzen darf, ist das veränderte Umfeld der Kirchen: Die Kirchen haben selbst gemerkt, dass sie mit restriktiven Vorgaben schlicht auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr erfolgreich sind. Die Kirche braucht Beschäftigte und hat daher ein Eigeninteresse daran, nicht zu streng zu sein.

Frage: Auf frühere Urteile aus Karlsruhe und Luxemburg hin gab es Änderungen im kirchlichen Arbeitsrecht. Erzeugt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jetzt neuen Änderungsbedarf?

Joussen: Ich denke nicht. Die Grundordnung wie die Mitarbeitsrichtlinie sind in den letzten Jahren so umfangreich angepasst worden, dass es keinen akuten Bedarf gibt.

Frage: Es könnte aber demnächst ein Urteil kommen, das doch Änderungen erforderlich macht: Der Europäische Gerichtshof verhandelt über den Kirchenaustritt als Kündigungsgrund. Die Schlussanträge der Generalanwältin sind schon bekannt, die Entscheidung dürfte also nicht allzu lange auf sich warten lassen. Wagen Sie schon eine Prognose, wie dieser Fall ausgehen wird?

Joussen: Nein, ich will nicht die Kassandra sein. Aber dieses Verfahren zeigt, wo der eigentliche Änderungsbedarf im kirchlichen Arbeitsrecht besteht. Nicht bei der Kirchenzugehörigkeit - das ist jetzt schon ganz gut gelöst, sondern beim Kirchenaustritt. Da halten beide Kirchen ehern daran fest, dass ein Kirchenaustritt grundsätzlich zur Kündigung führt. Der Grundsatz wurde in den vergangenen Jahren nur wenig aufgeweicht. Einzelfälle können jetzt abgewogen werden, etwa bei einem Kirchenaustritt von Betroffenen sexualisierter Gewalt. Der Fall, der aktuell in Luxemburg liegt, ist vor allem dadurch geprägt, dass es um eine Frau geht, deren frühere Kolleginnen selbst nicht alle Kirchenmitglieder waren. Es steht hier also fest, dass eine Kirchenmitgliedschaft nicht erforderlich für die Stelle ist. Unter diesen Bedingungen ist es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass der Europäische Gerichtshof eine Entscheidung gegen die Position der Kirchen fällt.

Frage: Auch unter diesen Bedingungen ist es aber doch etwas anderes, ob jemand nie Mitglied war, oder ob jemand sich durch einen Austritt von der Kirche distanziert.

Joussen: Völlig fernliegend ist diese Argumentation nicht. Man muss sich aber anschauen, was ein Kirchenaustritt eigentlich ist, und was ein Arbeitsverhältnis ist. Als Arbeitnehmer muss ich eine bestimmte Pflicht erfüllen. Wenn jetzt jemand sagt, das tun zu können und die kirchlichen Ziele der Einrichtung mitträgt, aber eben nicht als Kirchenmitglied, ist das dann wirklich eine Distanzierung vom Arbeitgeber, die eine Kündigung rechtfertigt? Das wäre mir zu pauschal argumentiert. Sicher, wenn es ein offensives, nach außen hin wahrnehmbares Verhalten ist, das gegen die Kirche gerichtet ist, dann käme eine Kündigung in Frage. Aber das gilt genauso bei jedem anderen Arbeitgeber. Kein Arbeitgeber muss dulden, dass sich ein Mitarbeiter öffentlich gegen ihn positioniert. Solange die Kirche in vergleichbaren Stellen auch Menschen beschäftigt, die kein Kirchenmitglied sind, kann man meiner Ansicht nach den Austritt kaum noch plausibel als gerechtfertigten Kündigungsgrund bewerten.

Frage: Neben Gerichtsentscheidungen könnten Veränderungen im kirchlichen Arbeitsrecht auch durch die Politik veranlasst werden. Die Ampel-Regierung hatte Angleichungen des kirchlichen Arbeitsrechts an das staatliche überprüft, am Ende aber nichts verändert. Sehen Sie momentan relevante politische Bestrebungen, das Thema des kirchlichen Arbeitsrechts politisch anzugehen?

Joussen: Nein. Da hat wirklich niemand Lust, das anzugehen. Das hat der Prüfprozess der Ampelregierung noch einmal bestätigt: Es gab eine Handvoll Gesprächsrunden, die ganz freundlich abgelaufen sind, aber im Ergebnis waren sie völlig ohne Konsequenz.

Frage: Wo sehen Sie Reformbedarf?

Joussen: Ein großes ungelöstes Thema ist die fehlende Unternehmensmitbestimmung in kirchlichen Unternehmen, also die Beteiligung der Beschäftigten in Aufsichtsgremien. Da zieren sich beide Kirchen. Die evangelische Kirche ist einen kleinen Schritt vorangegangen, die katholische Kirche hat es bislang in der jüngsten Runde der Novellierung ihres kollektiven Arbeitsrechts außen vor gelassen. Ein großes Thema ist auch die Frage nach dem Streikrecht, da wäre es aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention denkbar, dass supranationale Gerichte Veränderungen bewirken. Aber das ist nicht geschehen. In Deutschland muss auch hier wieder die Abwägung des Streikrechts mit dem Selbstbestimmungsrecht des Grundgesetzes getroffen werden.

Frage: Wie sieht es bei den Kirchen selbst aus? Wie viel Reformwille gibt es beim kirchlichen Arbeitsrecht?

Joussen: Nach den großen Änderungen der vergangenen Jahre rechne ich nicht damit. Die Kirchen sagen zwar immer, dass sie ihre Regelungen aus eigener Motivation und Überzeugung verändert haben, etwa bei der Reform der katholischen Grundordnung mit ihren deutlich liberalisierten Loyalitätsobliegenheiten oder der Reform der evangelischen Mitarbeitsrichtlinie. Ich habe aber den starken und wie ich finde auch gut begründeten Eindruck, dass relevante Änderungen im kirchlichen Arbeitsrecht im Wesentlichen von außen, durch Gerichte und die Politik, bewirkt werden.

Von Felix Neumann