Ein Gastbeitrag von Dogmatiker Jan-Heiner Tück

Lernverweigerung: Brandmüller hätte zum Konzil besser geschwiegen

Veröffentlicht am 14.11.2025 um 00:01 Uhr – Von Jan-Heiner Tück – Lesedauer: 
Gastbeitrag

Wien ‐ Für Kardinal Walter Brandmüller sind die Erklärungen des Zweiten Vatikanums zum Verhältnis der Kirche zu anderen Religionen und zur Religionsfreiheit überholt. Der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück widerspricht: Heute zeige sich, wie zukunftsweisend diese Dokumente sind.

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Der Streit um das Zweite Vatikanische Konzil ist ein Streit um die Zukunft der Kirche. Kardinal Walter Brandmüller hat bereits im Jahr 2012 eine Charmeoffensive gegenüber den traditionalistischen Piusbrüdern lanciert und sich als fragwürdiger Interpret des Konzils erwiesen. Das Zweite Vatikanische Konzil sei "bloß" ein "Pastoralkonzil", die Dekrete und Erklärungen zum Ökumenismus, zum interreligiösen Dialog und zur Religions- und Gewissensfreiheit hätten nur geringen Verbindlichkeitsgrad. Man könne sie getrost auf sich beruhen lassen und möge sich bitte schön nicht so aufregen.

Bild: ©Privat (Archivbild)

Jan-Heiner Tück ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Wien.

Ohne auch nur mit einem Wort auf die Kritik an seiner kühnen Relativierung zentraler Lehren des Konzils einzugehen, die seinerzeit vielstimmig – auch von den Kardinälen Kasper und Koch – geäußert wurde, geht Brandmüller nun in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) noch einen Schritt weiter: "Die wirklich wichtigen Dokumente, also die Konstitutionen zur Liturgie, zur Kirche, zur Heiligen Schrift, haben Bestand, und sie stehen ganz im Strom der kirchlichen Überlieferung […] Merkwürdig ist, dass die Traditionalisten gerade gegen die Texte Sturm laufen, die anders als die genannten Konstitutionen den geringsten Verbindlichkeitsgrad haben und lediglich 'Deklarationen' sind. Ich spreche hier von 'Nostra aetate' über die Elemente der Wahrheit in den anderen Religionen und über 'Dignitatis humanae' zur Glaubens- und Gewissensfreiheit. Das sind zeitbedingte Erklärungen des Konzils, die mittlerweile überholt sind."

Performativer Selbstwiderspruch

Diese Aussage ist Ausdruck einer hartnäckigen Lernverweigerung. Sie läuft zudem auf einen performativen Selbstwiderspruch hinaus, da die Erklärungen, die Brandmüller für unverbindlich hält, in den Konstitutionen, die er ausdrücklich anerkennt, theologisch verankert sind. Zur Erinnerung: Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) hat sechzehn Dokumente verabschiedet, darunter vier Konstitutionen, einige Dekrete und Erklärungen. Die traditionelle Stufung der Verbindlichkeitsgrade, auf die Brandmüller hinweist, geht am lehramtlichen Diskurs des Konzils insofern vorbei, als dieses auf dogmatische Definitionen und Verurteilungen von Irrtümern ausdrücklich verzichtet hat.

Im Sinne der Vorgaben von Papst Johannes XXIII. (1958-1963) hat es auf eine positive Darlegung der Glaubenswahrheiten abgestellt. Dieser neue Typ lehramtlichen Sprechens, den man als "pastoral" bezeichnen kann, ist von der Piusbruderschaft von Anfang an schroff abgelehnt worden. Die Piusbruderschaft vertritt nicht nur partiell eine antijudaistische Theologie und hält den Vorwurf des "Gottesmordes" bis heute aufrecht, sie bezeichnet auch die Anerkennung der Religionsfreiheit durch das Konzil als modernistische Häresie und verteidigt das Modell eines katholischen Staates. Der traditionalistische Traum von einem Staat, der als verlängerter Arm der Kirche agiert, um katholische Glaubenswahrheiten durchzusetzen und andere Religionen rechtlich einzuschränken, ist ein anachronistisches Projekt, welches das Konzil mit Recht zurückweist.

Kardinal Walter Brandmüller liest ein Buch
Bild: ©KNA/Francesco Pistilli (Archivbild)

Der Kirchenhistoriker Kardinal Walter Brandmüller war von 1998 bis 2009 Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaft.

Wenn Brandmüller "Nostra aetate" und "Dignitatis humanae" für überholt erklärt, tastet er das Erbe des Konzils an, denn die Grundlagen für beide Erklärungen sind in den Konstitutionen gelegt. So findet sich in der dogmatischen Konstitution über die Kirche "Lumen gentium" die dialogische Öffnung des Kirchenbegriffs im Blick auf die nichtkatholischen Kirchen, die nichtchristlichen Religionen und auch die Atheisten (Lumen gentium 14-16). Eine Hermeneutik der Abgrenzung, welche Nichtchristen als "Heiden" und Nichtkatholiken als "Schismatiker" und "Häretiker" abqualifiziert (wie noch der CIC von 1917), weicht hier einer Hermeneutik der Anerkennung, die das "Gute und Wahre" bei den anderen würdigt. Die überlieferte Lehre von der Heilsnotwendigkeit der Kirche wird nicht zurückgenommen, aber der Begriff der Kirche semantisch ausgedehnt und von unterschiedlichen Graden der Zugehörigkeit gesprochen.

Signale der Erneuerung

Für moderne Gesellschaften ist die Verständigung zwischen Religionen und die Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit wesentlich. Die katholische Kirche hat durch das Konzil wichtige Signale der Erneuerung gesetzt: "Nostra aetate" überwindet eine konfrontative Sicht und steht für den interreligiösen Dialog und die Öffnung zum Judentum. Die katholische Kirche hat hier ihre Lektion aus der Geschichte gelernt, jede Form von Antijudaismus abgelehnt und die wurzelhafte Verbindung der Kirche mit dem Bundesvolk Israel herausgestellt. "Dignitatis humanae" steht für die Anerkennung der Religions- und Gewissensfreiheit. Das entspricht dem kommunikativen Offenbarungsverständnis, das den Menschen als freien Adressaten der Selbstmitteilung Gottes begreift (Dei Verbum 2) und liegt auf der Linie der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes", die das moderne Menschenrechtsdenken affirmiert hat und von Brandmüller symptomatischerweise erst gar nicht erwähnt wird. Stellt man diese Entscheidungen dem subjektiven Belieben anheim, ja erklärt sie schlichtweg für "überholt", um den Piusbrüdern einen Köder hinzuhalten, fällt man hinter das Konzil zurück.

Gerade in Zeiten eines weltweit wieder aufflackernden Antisemitismus ist das Erbe von "Nostra aetate" entschieden hochzuhalten, auch leitet es dazu an, das keineswegs einfache Gespräch mit dem Islam differenzsensibel, aber "mit Wertschätzung" weiterzuführen. "Dignitatis humanae" hat die Bedeutung der Menschenrechte und die Gewährung von Religions- und Gewissensfreiheit entschieden bekräftigt. Das ist in Zeiten, wo der liberale demokratische Rechtstaat angefragt, ja gefährdet ist und autokratische Tendenzen in der Politik zunehmen, ein wichtiges Signal. Auch bietet das Dokument einen Maßstab, die allzu elastische Haltung mancher Bischöfe gegenüber Autokraten zurückzuweisen. Kardinal Walter Brandmüller fügt dem Ansehen der katholischen Kirche massiven Schaden zu, wenn er diese wichtigen Weichenstellungen des Konzils für "überholt" erklärt. Er hätte besser geschwiegen.

Von Jan-Heiner Tück