Bischof Feige: Nach dem Anschlag war die Stadt wie gelähmt

Der Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember vergangenen Jahres hat sich tief in das Gedächtnis der Stadt eingebrannt. Auch für Bischof Gerhard Feige ist das Geschehen bis heute präsent – weniger in einzelnen Bildern der Tatnacht als in der Atmosphäre danach. Im katholisch.de-Interview erinnert er sich an die ökumenische Gedenkfeier im Dom und die aufgeladenen politischen Debatten nach der Tat. Außerdem spricht er über die aktuelle Stimmung in der Stadt, den laufenden Prozess gegen den Täter und die Bedeutung von Solidarität und Mitmenschlichkeit für eine Gesellschaft.
Frage: Bischof Feige, wenn Sie an den Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt zurückdenken: Welche Bilder oder Erinnerungen kommen Ihnen zuerst in den Sinn?
Feige: Als erstes taucht bei mir die ökumenische Gedenkfeier auf, die 24 Stunden nach dem Anschlag im Dom stattgefunden hat. Das ist das, was ich persönlich am unmittelbarsten erlebt habe. Im Dom war viel Politprominenz anwesend – der Bundespräsident, der Bundeskanzler, die Ministerpräsidenten Haseloff und Woidke sowie Vertreter der Stadt. Dahinter die Ersthelfer: Sanitäter, die nach dem Anschlag im Einsatz gewesen waren, und Notfallseelsorger. Gleichzeitig standen draußen auf dem Domplatz Tausende Magdeburgerinnen und Magdeburger, bei regnerischem und kaltem Wetter. Die Feier wurde für sie auf einer großen Leinwand übertragen. Um 19.02 Uhr – genau zu der Zeit, zu der am Vorabend der Anschlag stattgefunden hatte – läuteten die Glocken in der ganzen Stadt. Die verdichtete Stimmung an diesem Abend ist mir stärker in Erinnerung geblieben als der Abend des Anschlags selbst.
Frage: Trotzdem noch einmal der Blick auf den Abend des 20. Dezember: Wie haben Sie damals von dem Anschlag erfahren?
Feige: Das weiß ich nicht mehr ganz genau. Etwa eine halbe Stunde vor dem Anschlag bin ich in der Nähe des Weihnachtsmarktes vorbeigefahren, auf dem Weg zu mir nach Hause. Später wurde ich dann entweder durch Anrufe oder durch das Einschalten des Fernsehers mit den Ereignissen konfrontiert. Sehr eindrücklich war für mich auch eine SMS, die ich am späten Abend von meinem ehemaligen Fahrer und seiner Frau bekam. Sie waren mit Freunden auf dem Weihnachtsmarkt gewesen, als der Täter durch die Menschenmenge raste. In der SMS schilderten sie, wie plötzlich überall Menschen schrien, Verletzte am Boden lagen und eine Oma verzweifelt ihren Enkel suchte. Sie selbst waren glimpflich davongekommen, hatten nur Prellungen. Trotzdem: Diese Nachricht hat das Geschehen auf einmal ganz nah herangerückt. Gleichzeitig stellte sich mir sofort die bange Frage: Wen könnte es aus dem eigenen Umfeld noch getroffen haben?
Frage: Und, gab es in Ihrem Umfeld weitere Betroffene?
Feige: Ich habe von Mitarbeitenden aus unserem Ordinariat und aus unseren katholischen Schulen in Magdeburg gehört, die zumindest indirekt betroffen waren. Manche sagten auch: "Ich wollte eigentlich an diesem Abend auf den Weihnachtsmarkt, bin dann aber doch nicht hingegangen." Danach hatten sie dieses beklemmende Gefühl: "Es hätte auch mich treffen können." Daran merkte man, wie weit der Anschlag in die Stadtgesellschaft hineingewirkt hat.
„Unmittelbar nach dem Anschlag war die Stadt wie gelähmt, wütend, traurig, entsetzt, fassungslos. Das konnte man überall spüren.“
Frage: Wie präsent ist der Anschlag heute noch in Magdeburg?
Feige: Zunächst: Unmittelbar nach dem Anschlag war die Stadt wie gelähmt, wütend, traurig, entsetzt, fassungslos. Das konnte man überall spüren. Die Blumen- und Kerzenfelder, etwa vor der Johanniskirche und vor dem Dom, zeigten, wie sehr das Ereignis die Menschen bewegt hat. Auch die Weihnachtstage standen ganz unter dem Eindruck des Anschlags; in den Gottesdiensten spielte das Geschehen eine große Rolle. Im Laufe des Jahres ist das dann zunächst in der Öffentlichkeit abgeklungen, nicht aber natürlich bei den direkt Betroffenen. Doch mit dem Bau der temporären Halle für den Prozess gegen den Täter, dem Beginn des Verfahrens und der intensiven Berichterstattung darüber ist das Thema öffentlich wieder stärker präsent. Und auch jetzt, unmittelbar vor dem ersten Jahrestag, merkt man, dass sich die Stadt erneut mit den Geschehnissen auseinandersetzt.
Frage: Wie nehmen Sie die Stimmung der Menschen wahr? Überwiegt Verunsicherung oder eher Zusammenhalt?
Feige: Das ist unterschiedlich. Für die unmittelbar Betroffenen kommt gerade jetzt, im Vorfeld des Jahrestages, vieles wieder hoch. Wer Tote zu beklagen hat oder selbst verletzt wurde, erlebt das besonders intensiv, auch im Zusammenhang mit dem Prozess. Gleichzeitig gibt es natürlich auch Menschen, für die der Anschlag kein tägliches Thema mehr ist und die ihren Alltag leben.
Frage: Der Anschlag fand kurz vor der Bundestagswahl statt und fiel damit in eine politisch besonders aufgeladene Zeit. Wie haben Sie die politischen Debatten danach erlebt?
Feige: Nach solchen Ereignissen beginnt sofort die Suche nach Schuldigen, und die Debatten werden schnell sehr aggressiv geführt. In der Christnacht habe ich damals gesagt: "Was wir jetzt brauchen, sind keine rechten Aufmärsche und politischen Instrumentalisierungen, sondern eine Atempause, um neue Kraft und Zuversicht zu schöpfen." Es ist tragisch, dass trotzdem gerade rechte Kräfte den Anschlag instrumentalisiert haben. Es gab zum Beispiel eine Demonstration mit der AfD-Bundessprecherin Alice Weidel, bei der der Täter zum Islamisten erklärt wurde, obwohl er – nach allem, was wir wissen – ein säkularer Mensch ist, der eher gegen den Islam auftritt. Parallel zur ökumenischen Gedenkfeier kam es zudem zu lautstarken Demonstrationen gegen Ausländer. Das empfand ich als besonders makaber.
Frage: Sie haben es bereits angesprochen: Der Prozess gegen den Täter läuft inzwischen. Verfolgen Sie das Verfahren? Und wenn ja, wie nehmen Sie es wahr?
Feige: Ich verfolge den Prozess punktuell über die Medien. Viele Bürgerinnen und Bürger verstehen den großen materiellen und juristischen Aufwand nicht, der mit dem Verfahren verbunden ist, und beklagen, dass dem Täter noch eine Bühne geboten wird, weil er selbst viel Rederecht eingeräumt bekommt und Zeugen befragen kann.
"Trauerprozesse dauern lange. Man sollte das Geschehene nicht verdrängen, sondern die Erinnerung daran zulassen", so Bischof Feige mit Blick auf die stadtweite Trauer und Wut über den Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024.
Frage: Können Sie diese Sichtweise nachvollziehen?
Feige: Auf Anhieb würde ich sagen: Ja, ich verstehe schon, dass manche ihre Anfragen daran haben, wüsste aber bei einem solchen Mammutprozess auch keine andere Lösung.
Frage: Kann der Prozess Ihrer Ansicht nach dennoch zur Aufarbeitung beitragen – für die Betroffenen, aber auch für die Stadtgesellschaft insgesamt?
Feige: Für die Betroffenen ist der Prozess auf jeden Fall wichtig, auch wenn sie sehr unterschiedlich damit umgehen. Einige verfolgen den Täter und sein Verhalten im Gerichtssaal genau, andere können es kaum ertragen, ihn zu sehen oder zu hören. Für die Stadt insgesamt kann ich schwer einschätzen, welche Wirkung das Verfahren haben wird.
Frage: Wegen Sicherheitsbedenken stand der Weihnachtsmarkt in diesem Jahr kurzzeitig auf der Kippe. Wie bewerten Sie die Entscheidung, ihn doch zu eröffnen?
Feige: Ich bin da eher unschlüssig. Nach dem Anschlag gab es schon im vergangenen Jahr die Argumentation: "Wenn wir jetzt nicht Weihnachten feiern, dann hat der Täter gewonnen." Ähnlich wurde auch die Debatte um die Öffnung des Marktes in diesem Jahr geführt. Natürlich muss man versuchen, nach einer solchen Tat nach und nach zur Normalität zurückzufinden, ohne dabei das Leid der Betroffenen zu vergessen. Das ist ein schwieriger Balanceakt.
Frage: Was würden Sie Menschen sagen, die unsicher sind, ob sie den Weihnachtsmarkt besuchen sollen?
Feige: Das würde ich jedem Einzelnen selbst überlassen. Ich war selbst noch nicht dort und bin generell kein eifriger Weihnachtsmarktbesucher. Früher bin ich gelegentlich hingegangen, um ein paar gebrannte Mandeln zu kaufen oder eine Thüringer Rostbratwurst zu essen, mehr nicht. Ich weiß aber, dass viele Menschen Weihnachtsmärkte als etwas Schönes erleben: als Orte der Begegnung, mit einer friedlichen Atmosphäre, verbunden mit Sehnsucht, Idylle und Kindheitserinnerungen.
„Wildfremde Menschen sind einander zum Nächsten oder zur Nächsten geworden, viele waren sofort bereit zu helfen. Das hat mich sehr beeindruckt.“
Frage: Am Jahrestag selbst wird es umfangreiche Gedenkfeierlichkeiten geben. Welche Botschaft möchten Sie als Bischof den Menschen dort mitgeben?
Feige: Das Evangelium der ökumenischen Gedenkfeier ist das vom barmherzigen Samariter. Es stellt nicht die Frage: "Wer ist mein Nächster?", sondern: "Wem werde ich zum Nächsten?". Genau das hat sich nach dem Anschlag gezeigt. Wildfremde Menschen sind einander zum Nächsten oder zur Nächsten geworden, viele waren sofort bereit zu helfen. Das hat mich sehr beeindruckt. Meine Botschaft wird sein, dass Gemeinschaft, Empathie und Sensibilität zentrale Werte für unsere Gesellschaft sind.
Frage: Gibt Ihnen diese Solidarität Hoffnung für eine Gesellschaft, die oft als gespalten wahrgenommen wird?
Feige: Ja, solche Erfahrungen machen wir immer wieder bei Katastrophen. Ich habe Ähnliches bei den großen Hochwasserkatastrophen hier in Sachsen-Anhalt erlebt. In der Not rücken die Menschen zusammen, helfen einander, sprechen miteinander. Leider lässt das im Alltag oft wieder nach. Aber in diesen Momenten wird sichtbar, was möglich ist.
Frage: Welche Rolle spielen Gedenktage und Rituale für die Verarbeitung von Katastrophen?
Feige: Trauerprozesse dauern lange. Man sollte das Geschehene nicht verdrängen, sondern die Erinnerung daran zulassen. Allmählich kann dadurch auch neue Zuversicht erwachsen. Mir kommt da ein Vers von Erich Kästner in den Sinn: "Wer das, was schön war, vergisst, wird böse. Wer das, was schlimm war, vergisst, wird dumm." Beides gehört zusammen: die Erinnerung an den Schrecken und die Erinnerung daran, wie Menschen füreinander da sein können.
Informationen zum Gedenken am ersten Jahrestag
Der erste Jahrestag der Amokfahrt über den Magdeburger Weihnachtsmarkt wird an diesem Samstag in Magdeburg mit einem umfangreichen Gedenken begangen. Unter anderem findet um 11 Uhr (Einlass: ab 10 Uhr) in der Johanniskirche unweit des Tatorts ein Gedenkgottesdienst für die Betroffenen und Angehörigen statt. Zudem soll um 19 Uhr eine Lichterkette rund um den an diesem Tag geschlossenen Weihnachtsmarkt gebildet werden. Nähere Informationen hat das Bistum Magdeburg auf seiner Internetseite zusammengestellt.