Philosophen loten die Grenzen der Naturwissenschaft aus

"Physik ist amoralisch"

Veröffentlicht am 05.12.2015 um 16:15 Uhr – Von Burkhard Schäfers – Lesedauer: 4 MINUTEN
Wissenschaft

München ‐ Physik, Biologie und Chemie bringen die Menschheit voran. Sie feiern Erfolge gegen Krankheiten oder bei technologischen Innovationen. So gewinnen die Naturwissenschaften immer mehr Einfluss auf unser Leben. Eine Gruppe von Forschern versucht nun zu bremsen.

  • Teilen:

Zwar sind die Erkenntnisse umstritten. Doch auch heute noch behaupten bekannte Hirnforscher wie Gerhard Roth von der Universität Bremen und Wolf Singer vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung: Die Freiheit des menschlichen Willens ist ein Mythos. "Das ist eine große Herausforderung, weil wir uns so nur noch als determinierte Biomaschinen verstehen", sagt Tobias Müller vom Institut für naturwissenschaftliche Grenzfragen zur Philosophie und Theologie der Münchner Hochschule für Philosophie. "Dann wären wir letztlich nur eine komplexe Ansammlung von Materieteilchen." Müller leitet ein Forschungsprojekt an der vom Jesuitenorden getragenen Hochschule, das nach den Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis fragt.

Gravierende Folgen für die Gesellschaft

Denn wenn menschliche Entscheidungen tatsächlich nicht auf einem freien Willen beruhen, hätte das gravierende Folgen und würde die Gesellschaft stark verändern: "Wir müssten uns darüber unterhalten, ob das menschliche Leben überhaupt eine Würde hat oder ob es Menschenrechte gibt", sagt Naturphilosoph Müller. Konsequent weiter gedacht, stünde sogar das Strafrecht in Frage, "weil dann keiner mehr Verantwortung für sein Handeln hätte".

Linktipp: Gibt es Gott?

Religion schadet - dem Einzelnen und der Gesellschaft, denn sie macht den Menschen aggressiv und gewalttätig. Diese These vertreten seit einigen Jahren die so genannten "Neuen Atheisten" um Richard Dawkins, Daniel Dennett oder Michael Schmidt-Salomon. Sie argumentieren überwiegend empirisch-naturwissenschaftlich, warum es Gott aus ihrer Sicht nicht gibt. Allerdings findet sich unter Philosophen auch eine Gegenströmung, die der Frage nachgeht, ob sich die Existenz Gottes beweisen lässt.

Diese Sichtweise wird als reduktionistischer Naturbegriff bezeichnet. Sie geht davon aus, dass sich Phänomene rein kausal beschreiben lassen. Demnach hat jede Ursache eine Wirkung. Damit verbunden ist der Anspruch der Naturwissenschaft, sie könne alles Wesentliche in der Welt erklären. Was sich nicht mittels naturwissenschaftlicher Methoden erfassen lässt, gilt als irreal. "Mit dem Erfolg der Naturwissenschaft in den vergangenen 200 Jahren haben die Tendenzen eingesetzt, auch den Menschen restlos erklären zu wollen, ihn auf funktional-kausale Zusammenhänge zu reduzieren", erläutert Tobias Müller.

Das Forschungsprojekt der Jesuitenhochschule verfolgt einen anderen Ansatz: Es stellt die verschiedenen Disziplinen, deren Methoden und Aufgaben nebeneinander. So könnten etwa die Neurowissenschaften helfen, eine medizinische Therapie zu entwickeln. Aber sie sollten Abstand davon nehmen zeigen zu wollen, dass es keine Willensfreiheit gibt. "Wenn Naturwissenschaftler die Seele oder den Geist suchen wollen, dann ist das eine Art Kategorienfehler", sagt Tobias Müller. "Denn sie haben nicht die Kategorien für diese Fragen." Ziel seiner Forschungsgruppe ist es, ein philosophisches Subjektkonzept zu entwickeln, das neben der engen naturwissenschaftlichen Perspektive etwa auch religiösen Deutungen Raum lässt. "Denn Naturwissenschaftler müssen aus methodischen Gründen zentrale Aspekte von Wirklichkeit und Subjekt ausklammern."

So manche Koryphäe aus Biologie oder Physik dürfte das als anmaßend empfinden. Nicht aber Harald Lesch, Professor für Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Lehrbeauftragter für Naturphilosophie an der Hochschule der Jesuiten. "Wenn wir den Naturwissenschaften eine Art von Universalerklärungsanspruch zubilligen, stellen wir unsere gesamte Weltordnung auf technologische Beine." Der aus der ZDF-Wissenschaftssendung "Leschs Kosmos" bekannte Astrophysiker hält es nicht für erstrebenswert, "dass es keine anderen Begründungszusammenhänge mehr geben kann als diejenigen, die sich mit physikalisch-technologischen Ergebnissen abbilden lassen".

Bild: ©ZDF/Jens Hartmann

Harald Lesch ist Professor für Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Moderator der ZDF-Wissenschaftssendung "Leschs Kosmos".

Lesch hält es durchaus für legitim, dass Philosophie und Theologie nach den Grenzen der Naturwissenschaft fragen. Aufgabe der Physik sei es, das zu erforschen, was sich mit Messgeräten untersuchen lasse. In diesem Sinne habe die reduktionistisch-naturalistische Haltung unglaubliche Einblicke in die Natur geliefert. Allerdings: Je komplexer die Dinge sich darstellten, desto schwächer werde der Reduktionismus. Und so hebt Harald Lesch hervor: "Physik ist amoralisch in dem Sinne, dass es in den Naturgesetzen keine moralischen Begriffe gibt." Seine Schlussfolgerung: "Wir sind aufgefordert, uns mit unserem Verstand und unserer Vernunft selbst Grenzen zu ziehen bei dem, was wir tun."

"Die wichtigsten Dinge in unserem Leben sind nicht messbar"

Insofern könnten Naturwissenschaftler von einem Austausch mit Vertretern aus Philosophie oder Theologie profitieren, sagt der Astrophysiker: "Die Wirklichkeit besteht eben nicht nur aus der Laborsituation. Die wichtigsten Dinge in unserem Leben sind nicht messbar." Im Gegenzug betont Religionsphilosoph Tobias Müller: "Unser Projekt muss den modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen standhalten." Deren Grenzen auszuloten könne beide Disziplinen voranbringen - Naturwissenschaft und Philosophie.

Von Burkhard Schäfers