Wo bleibt die Hilfe der Theologen?
Frage: Sie leiten als Psychotherapeut und Theologe das Center for Child Protection CCP, das Zentrum für Kinderschutz der katholischen Kirche in Rom. Was tun Sie?
Zollner: Wir sind wenige, aber wir versuchen, dicke Bretter zu bohren. Denn wir arbeiten nachhaltig für die Prävention gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der Kirche. Dabei stellen wir uns scharf gegen die Unkultur des Verschweigens und Vertuschens, die mit der sexuellen Gewalt gegen Minderjährige einhergeht. Unsere Aufklärungs-und Sensibilisierungsarbeit erstreckt sich auf die katholische Weltkirche. Die bildet mit über 1,22 Milliarden Mitgliedern die größte strukturierte Gemeinschaft der Erde. Sie ist in nahezu sämtlichen soziokulturellen Räumen vertreten. Weltkirchenweit den sexuellen Missbrauch zu bekämpfen ist folglich eine interkulturelle Aufgabe. Wir gehen diese Aufgabe auch in Regionen an, wo wie etwa in Korea über Missbrauch kaum je gesprochen wird, wegen der vorherrschenden Schamkultur oder weil Aufmerksamkeit und Sensibilität für das Thema fehlen.
Frage: Sind Sie überrascht, dass sogar in der Kirche der Armen ein enger Mitarbeiter von Erzbischof Oscar Romero jahrelang Täter war?
Zollner: Betroffen und enttäuscht ja, überrascht nicht wirklich: Missbrauch kommt überall vor.
Frage: Wie können Sie von der Zentrale Rom aus in entfernten Ländern dagegen angehen?
Zollner: Man kann das, wenn man seine Ziele klar definiert und subsidiär arbeitet. Unser Zielgruppe sind alle pastoral Mitarbeitenden. Es geht darum, ein Klima zu schaffen, in dem über Sexualität, Gewalt und Missbrauch möglichst angstfrei gesprochen werden kann. Ebenso wichtig wie das Ziel ist der Weg. Wir brauchen Partner vor Ort. Obwohl wir erst seit 2012 existieren, kommen zum Beispiel die Ordensobern aus Ecuador, katholische Universitäten und Schulen aus Afrika oder den Philippinen, Bistümer aus Ruanda und vielen anderen Staaten auf uns zu, um Partner zu werden in Prävention und "Safeguarding of Minors". Sie wollen und müssen unser E-Learning Programm jeweils in ihre Kultur übersetzen und Nachhaltigkeit garantieren. Also: Priesterstudierende, junge Ordensfrauen, Katechetinnen und Professoren sollen an der Ausbildung teilnehmen. Denn einzelne Pilotprojekte nutzen nichts im Kampf gegen Missbrauch. Unsere Strategie darf nicht punktuell sein, sie muss auf alle zielen, um erfolgreich zu sein.
Frage: Gibt es in jeder Kultur Fälle von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche?
Zollner: Davon ist auszugehen, leider. Jedoch gibt es hierüber kaum Forschung. Es ist ein riesiges Dunkelfeld: Patriarchat, Großfamilie, Clan, Kaste … im Privaten wird oft nicht hingeschaut. Die Kirchen sind durch den Druck der Öffentlichkeit vergleichsweise gut ausgeleuchtet. Vergewaltigung ist in jeder Kultur ein Verbrechen, auch wenn das Unrechtsempfinden für sexuelle Gewalt gegen Minderjährige in vielen Ländern sehr gering ausgeprägt ist.
Frage: Erleben Sie auch Widerstand gegen Ihre kirchliche Präventionsarbeit?
Zollner: In Osteuropa gab und gibt es eine Einstellung, die sagt: Sexuelle Gewalt durch Geistliche sei ein Problem der dekadenten, liberalen Kirchen des Westens. Wir jedoch wurden von den Kommunisten verfolgt. Die meisten unserer Priester waren Helden. Wäre einer zum Täter geworden, hätte die Geheimpolizei sich seiner bemächtigt - und dies wäre aufgedeckt worden. Richtig daran ist, dass die Kirchen in Osteuropa fast keine Schulen und Internate betreiben durften und somit ein Gefahrenbereich minimiert war. Doch die Abgeschlossenheit der kirchlichen Milieus bot Gefahren für Missbrauch. Auch in Südeuropa ist diese Haltung unter dem Namen Omertà (Gesetz des Schweigens, Anm. d. Red.) sehr verbreitet.
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Der Missbrauchsskandal erschütterte die katholische Kirche in ihren Grundfesten. Seit 2010 die ersten Fälle bekannt wurden, bemüht sich die Kirche um Aufarbeitung der Geschehnisse. Katholisch.de dokumentiert die wichtigsten Etappen.Frage: Gibt es einen typisch katholischen Gefahrenbereich?
Zollner: Das ist vor allem die Einstellung: "Das lösen wir unter uns, das können nur wir wirklich verstehen." Das scheint mir die Wurzel vieler gravierender Probleme zu sein, nicht nur, was Missbrauch angeht. Was die Betroffenen angeht, ist die Gefahr eines spirituellen Traumas – "neben" dem psychischen und körperlichen – sehr groß.
Frage: Wie verhält sich die mächtige Kirche Polens?
Zollner: Der Primas, Erzbischof Wojciech Polak von Gnesen, unterstützt Aufklärung und Prävention engagiert. Er zählt mit 52 Jahren zu einer neuen Generation im polnischen Klerus. Polens Bischöfe sind, ähnlich wie anderswo in Osteuropa, gespalten zwischen den Generationen. Das liegt an den sehr unterschiedliche Lebenserfahrungen: Viele der Alten, die den Ostblock erlebten, wollen Imageschäden für die Kirche vermeiden. Viele Jüngere dagegen stehen für Offenlegung und Umkehr. Seit Skandalen wie um den 2002 zurückgetretenen Erzbischof von Posen oder um den 2014 in den Laienstand versetzten polnischen Erzbischof und Ex-Nuntius in der Dominikanischen Republik lässt sich das Thema Missbrauch auch in Polens Kirche nicht mehr vertuschen.
Frage: Und in der Dritten Welt?
Zollner: Da bin ich am Lernen. Ich habe im letzten Jahr auf den Philippinen und in Ruanda den Ordensoberen Vorträge über Prävention und Kindesschutz gehalten. Dabei lernte ich, dass diese Bischöfe die Ausführungen über sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen anders hören als Kirchenleute im reichen Westen. In sehr armen Ländern erleiden Kinder und Jugendliche brutal vieles: kein sauberes Trinkwasser, Hunger, Mangel an Sicherheit, der Zwang, über die Erschöpfung hinaus schwer arbeiten zu müssen, Krieg. In dieser Gewaltwelt bildet die erlittene sexuelle Gewalt offenbar kein isolierbares, einzigartiges Verbrechen. Missbrauch erscheint eher als ein Teil des allgemeinen Elends der Kinder.
Frage: Wer öffnet die Türen für Ihre Arbeit?
Zollner: Couragierte Frauen und Männer helfen in ihrer Heimatkultur der Prävention. Bisweilen auch gegen Widerstände in der Kirche und der Gesellschaft.
Frage: Hilft Ihnen bei Ihrer Arbeit die akademische Theologie?
Zollner: Leider nein. Das ist bitter. Es gibt nahezu keine Veröffentlichungen, das haben wir bei zwei internationalen Kongressen feststellen müssen. Sehr gute spirituelle Anregungen kommen von Papst Franziskus, wenn er zu Betroffenen spricht. Doch die akademische Theologie hält Abstand zu dem so schweren, abgründigen Thema. Dabei stellen sich viele dringende theologische Fragen: Was heißt es, beim Täter von Vergebung zu sprechen? Und bei einem Opfer von Erlösung und Heilung? Was bedeutet der Missbrauch ekklesiologisch, also für das Bild der Kirche von sich selbst? Was bedeutet ein Priester, der Sakramente spendet, ein "Mann Gottes", als Täter? Bischöfe delegieren das Problem gerne an Psychologen und Kirchenrechtler. Das genügt nicht.
Frage: Welches ist der tiefste Abgrund?
Zollner: Die Perspektive bei Tätern. Es ist niederschmetternd: Auch nach einer Therapie ist die Rückfallquote hoch. Der Pionier unter uns Therapeuten, der US-Theologe und Psychiater Stephen Rosetti, sagt: Es braucht zehn Jahre, Woche für Woche eine Gruppensitzung mit rückhaltloser Offenheit wie bei den Anonymen Alkoholikern. Jedes Mal muss der Täter über sich und sein Verhalten sprechen. Dann besteht Hoffnung, dass er nicht rückfällig wird.