Gastbeitrag von Bischof Stephan Ackermann zu Karfreitag

Blick in das innerste Geheimnis Gottes

Veröffentlicht am 25.03.2016 um 00:01 Uhr – Von Stephan Ackermann – Lesedauer: 
Karfreitag

Trier ‐ Der Karfreitag steht im Zeichen des Kreuzestodes Christi. Zugleich lenkt er den Blick auf den Menschen in seiner Würde, seiner Schuldbeladenheit, seinem Schmerz und seiner Erlösungsbedürftigkeit, schreibt Bischof Stephan Ackermann.

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In seiner Erzählung "Der Statthalter von Judäa" schildert der französische Schriftsteller Anatole France Pilatus als altgewordenen Mann, der für sein Gichtleiden Linderung sucht an Schwefelquellen in Süditalien. Bei einem solchen Badeaufenthalt ergibt sich die Begegnung mit einem gewissen Aelius Lamia, der vor Jahrzehnten bei Kaiser Tiberius in Ungnade gefallen war und nach Judäa verbannt wurde. Es war zu eben der Zeit, als Pontius Pilatus Präfekt in Judäa war.

Damals sind sich die beiden begegnet, haben sich seitdem aber nicht mehr gesehen und tauschen nun ihre Erlebnisse aus: Sie sprechen über die Rebellen und Aufstände, denken an die schönen Frauen und die eigenartigen jüdischen Bräuche, erinnern sich an die ewigen Streitereien um das Gesetz und dessen richtige Auslegung. Und sie denken mit Kopfschütteln daran, wie brutal die Juden mit ihren eigenen Volksgenossen umgegangen seien. Oft hätten sie den Tod irgendeines Unglücklichen gefordert, ohne dass Pilatus wirklich einsehen konnte, worin dessen eigentliches Verbrechen bestand, außer dass der Beschuldigte genauso wahnsinnig war wie seine Gegner.

"Jesus? - Nein, ich erinnere mich nicht mehr."

Schließlich kommt Aelius Lamia auf einen jungen Galiläer, Jesus aus Nazaret, zu sprechen, der Menschen um sich sammelte, aber später wegen eines Verbrechens gekreuzigt wurde. "Ich weiß nicht mehr, was es für ein Verbrechen war", sagt Aelius Lamia. "'Erinnerst du dich noch an diesen Mann, Pontius?' Pontius Pilatus runzelte die Brauen", so fährt die Erzählung fort. "Er fuhr mit der Hand über die Stirn, als ob er sich auf etwas zu besinnen suchte. Dann, nach einer kurzen Pause, murmelte er: 'Jesus? Jesus - aus Nazaret? - Nein, ich erinnere mich nicht mehr.'"

Linktipp: "Es ist vollbracht!"

Der Karfreitag steht im Zeichen des Leides und erinnert an die Kreuzigung Jesu. In dem Begriff "Karfreitag" steckt das althochdeutsche "kara", was übersetzt wird mit Wehklage oder Trauer. Der Karfreitags-Gottesdienst ist in seiner Form im Kirchenjahr einmalig.

Ist das nicht ein erschütternder Gedanke, geradezu unvorstellbar, dass Pilatus sich am Ende seines Lebens nicht mehr an Jesus und das Geschehen jenes Freitags erinnert haben soll! Was für uns das Ereignis der Weltgeschichte schlechthin ist, soll für Pilatus nichts anderes gewesen sein als ein normaler "Arbeitstag", an den er im Alter keine Erinnerung behalten hat?

Christen begehen den Karfreitag, damit das, was Anatole France fiktiv ausmalt, nicht Wirklichkeit wird. Wenn wir Jahr um Jahr den Karfreitag begehen, dann arbeiten wir gegen das Vergessen. Zugleich erinnern wir uns daran, wie grausam Jesus gestorben ist. "Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben", das sagt sich leicht, zumal dann, wenn man es schon oft im Glaubensbekenntnis aufgesagt hat. Wer aber am Karfreitag den Kreuzweg betet, wer im Gottesdienst mit wachem Herzen der Passion folgt, der ahnt, was Jesus ertragen und wie viel er gelitten hat.

Der Karfreitag als Geheimnis der Stellvertretung

Doch damit ist die Bedeutung des Karfreitags für den Christen noch nicht ausgeschöpft. Eigentlich fängt sie damit erst an. Denn als Glaubende schauen wir am Karfreitag nicht bloß auf das leidvolle Geschick eines einzelnen Menschen, und sei er der Sohn Gottes selbst. Nach christlichem Bekenntnis hat Jesus ja nicht nur für sich persönlich Schreckliches erlitten, sondern er hat es erlitten für uns! Deshalb stößt uns der Karfreitag wie kein anderer Tag auf das Geheimnis der Stellvertretung. Wie aber können wir das verstehen?

Schon in unserem alltäglichen menschlichen Miteinander gibt es Formen von Stellvertretung, angefangen von der Urlaubsvertretung, die jemand für einen anderen übernimmt bis hin zu der Prügel, die ich für einen anderen einstecke. Ja, ich kann mich sogar bewusst selbst in Gefahr bringen, um etwa das Leben eines anderen zu retten, der sich aus eigener Kraft nicht mehr helfen kann. Aber es gibt auch Grenzen: Die seelische Not eines anderen, seine Schuld, seine Krankheit kann ich nicht übernehmen. In diesen Situationen kann ich einem anderen nur beistehen.

Bischof Ackermann bei einer Kathechese in Köln im Sommer 2013.
Bild: ©KNA

Der Karfreitag gibt den Blick frei in das innerste Geheimnis Gottes, so Bischof Ackerman in seinem Beitrag.

Unsere Sprache verrät die Grenze: Ich bleibe ich, werde nicht du. Das ist bei Jesus anders. Er überwindet die für uns Menschen unüberwindliche Grenze von Ich und Du. In seiner gottmenschlichen Liebe öffnet er sich ganz dem Du, wird er zum Du. In seiner grenzenlosen Liebe nimmt er uns Menschen in sich auf, ohne sich zu verlieren und ohne uns zu verschlingen. Das reale Symbol dafür ist das Herz des Gekreuzigten, das der Soldat mit der Lanze öffnet (Joh 19,34).

Freier Blick in das innerste Geheimnis Gottes

Weil aber Jesus der Eine ist, der für alle starb, und weil im Herzen des Gottessohnes Raum ist für alle Menschen, wird Jesus am Karfreitag zugleich zum Bild des Menschen überhaupt: "Ecce Homo", sagt Pilatus, als er den gefolterten Jesus der Menge präsentiert. In diesem Augenblick steht hier nicht mehr bloß ein einzelner Mensch, sondern der Mensch schlechthin, angetan mit Dornenkrone und Purpurmantel (Joh 19,5). Was als Spott gedacht war, zeigt unwillentlich die Wahrheit: die Hoheit Jesu und die Würde des Menschen.

Der Karfreitag gibt den Blick frei in das innerste Geheimnis Gottes. Zugleich lenkt er den Blick auf den Menschen in seiner Würde, seiner Schuldbeladenheit, seinem Schmerz und seiner Erlösungsbedürftigkeit.

Von Stephan Ackermann