"Ich halte die Stimmung kaum noch aus"
Frage: Herr Jung, in einem Statement zum Katholikentag haben Sie geschrieben, dass es mutig, vielleicht sogar verwegen ist, diese Veranstaltung in Leipzig durchzuführen. Wie haben Sie das gemeint?
Jung: Dass ein Deutscher Katholikentag in einer Stadt stattfindet, in der nicht einmal 20 Prozent der Einwohner einer christlichen Konfession angehören, ist schon eine bemerkenswerte Entscheidung. Und es ist ein Wagnis, denn niemand weiß letztlich, wie die Menschen hier auf das Angebot reagieren und in welcher Form sie sich an den Diskussionen zu sozialen, ethischen und kirchlichen Fragestellungen beteiligen werden.
Frage: Zugleich betonen Sie: Ein Katholikentag kann eine große Chance für Leipzig sein. Worin liegt diese Chance?
Jung: Der Katholikentag stellt ja die großen Fragen des Menschseins. Woher komme ich und wohin gehe ich? Was ist richtig und was ist falsch? Was ist der Maßstab meines Handelns? Darüber mit Menschen in einem säkularisierten Umfeld ins Gespräch zu kommen, darin sehe ich eine große Chance dieser Veranstaltung. Auch die aktuellen politischen Herausforderungen - man denke nur an die Flüchtlingsfrage oder das große Thema Integration - werden auf dem Katholikentag diskutiert. Und diese Themen gehen uns alle an, egal ob gläubig oder nicht-gläubig.
„Der Katholikentag stellt ja die großen Fragen des Menschseins. ... Darüber mit Menschen in einem säkularisierten Umfeld ins Gespräch zu kommen, darin sehe ich eine große Chance dieser Veranstaltung.“
Frage: Wie bereitet sich die Stadt auf das Ereignis vor?
Jung: Da sind natürlich zunächst die Leipziger Katholiken zu nennen. Aus dem Dekanat heraus hat sich ein Vorbereitungskreis gegründet, bestehend aus Menschen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, den Katholikentag in der Stadt zu verankern. Eine der wunderbaren Ideen dieses Teams ist es, städtische Räume und Einrichtungen für Veranstaltungen zu öffnen und so den Katholikentag in die Stadt hineinschwappen zu lassen.
Frage: Welche Orte sind das?
Jung: Das betrifft zunächst einmal die großen Kultureinrichtungen wie die Oper, das Gewandhaus und die Theater. Aber es soll auch Veranstaltungen in Ämtern, in Bürgerbüros und Sozialeinrichtungen geben.
Frage: Leipzig präsentiert sich gerne als junge, weltoffene Stadt. Doch das Bild verdüstert sich in Zeiten von Pegida und Legida. Wie stark belastet Sie das als Oberbürgermeister?
Jung: Ich sage es ganz deutlich: Ich halte die Stimmung im Land Sachsen kaum noch aus - und das betrifft auch meine Stadt. Wären da nicht die vielen optimistischen Menschen, all die ehrenamtlichen Helfer, die sehr aktiv versuchen, Willkommenskultur zu leben, die auch sehr deutlich auf der Straße ihren Widerstand formulieren, dann könnte man fast verzweifeln. Aber es richtet mich auf, dass die große Mehrheit der Bevölkerung sich sehr wohl abzugrenzen weiß gegen jede Form von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Es ist unerlässlich, dass alle demokratischen Parteien, egal wo im politischen Spektrum sie sich verorten, zusammenstehen, dazu Kirchen, Gewerkschaften, Vereine und Verbände, um deutlich zu machen, dass sie sich für eine andere Kultur im Land einsetzen.
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Frage: In einem Gastbeitrag im "Tagesspiegel" schrieben Sie kürzlich: "Wir haben in Sachsen ein Rassismus-Problem". Warum finden viele Ihrer Politikerkollegen nicht so klare Worte?
Jung: Ich möchte nicht pauschal über Kolleginnen und Kollegen urteilen, denn ich kann mir vorstellen, dass es vor allem in kleinen Gemeinden manchmal schwer ist für einen Bürgermeister, gegen die Stimmung vor Ort aufzustehen. Da haben wir es in Leipzig leichter, weil es hier viele Gruppierungen gibt, die es gewöhnt sind, gegen Neonazismus und Fremdenfeindlichkeit ein Zeichen zu setzen. Dennoch würde ich mir wünschen, dass die Politiker vor Ort stets klarer und deutlicher werden und Bündnisse schmieden, um zu zeigen, dass sie für ein anderes, weltoffenes Deutschland einstehen.
Frage: Der Katholikentag hat mit dem Ausschluss der AfD von allen Podien für heftige Debatten gesorgt. Wie weit geht Dialog und wo muss er enden?
Jung: Im Leipziger Stadtrat sitzen vier Mitglieder der AfD. Meine Erfahrung ist, dass das Menschen sind, mit denen man einen Dialog führen kann. Ich weiß aber gleichzeitig, dass es innerhalb dieser Partei extremistische Tendenzen gibt - bis hin zu offener Fremdenfeindlichkeit. Insofern respektiere ich die Entscheidung des Katholikentags, dieser Partei kein Forum zu bieten. Eines aber ist mir wichtig: Wir müssen mit den Menschen im Gespräch bleiben, die ihre Ängste und Sorgen loswerden wollen. Das ist im Einzelfall eine Gratwanderung und sollte daher nicht parteipolitisch motiviert, sondern immer an der Sache orientiert sein.
Frage: Sie sind ein politischer Quereinsteiger, waren zunächst Gymnasiallehrer, dann Schulleiter. Was hat sie bewogen, in die Politik zu wechseln?
Jung: Ich war mit 33 ein sehr junger Schulleiter. So früh schon die Chance zu bekommen, eine eigene Schule zu gestalten und auszubauen, ist nicht jedem vergönnt. Damit verbunden aber war die Perspektive, die nächsten 30 Jahre lang Schulleiter zu sein. Die Aussicht war nicht besonders verlockend für mich. Zum zweiten hatte ich in meiner Eigenschaft als stellvertretender Vorsitzender des Evangelischen Schulbunds oft mit der Politik zu tun. Indem wir versucht haben, Schulen in kirchlicher Trägerschaft als Alternativen zu staatlichen Schulen zu entwickeln, sind wir des Öfteren in Konflikt mit der Schulpolitik des Freistaats Sachsen gekommen. Und drittens war das die Zeit, als Wolfgang Tiefensee Oberbürgermeister in Leipzig war. Mich verband eine Freundschaft mit ihm, so dass ich es mir sehr gut vorstellen konnte, als Beigeordneter an seiner Seite in die Stadtpolitik einzusteigen.
„Ich glaube, dass wir als Politiker gut beraten sind, wenn wir unser Handeln immer wieder an ethischen Maßstäben messen, und in diesem Zusammenhang ist mein Glaube ein wichtiger Kompass.“
Frage: Seit 2000 sind Sie SPD-Mitglied. Warum diese Partei?
Jung: Die SPD ist für mich die Partei, die meinen sozialpolitischen Vorstellungen, insbesondere in Fragen der Chancengerechtigkeit, am nächsten kommt. Ich habe deshalb schon als Student in Münster auf der SPD-Liste für den Fachschaftsrat kandidiert. Hinzu kommen politische Vorbilder, vor allem Willy Brandt und Regine Hildebrandt, die damals als Sozialministerin eine herausragende Arbeit geleistet hat.
Frage: Eines Ihrer Fächer als Lehrer war evangelische Religion. Wieviel Religionslehrer steckt bis heute in Ihnen?
Jung: Ich glaube, dass wir als Politiker gut beraten sind, wenn wir unser Handeln immer wieder an ethischen Maßstäben messen, und in diesem Zusammenhang ist mein Glaube ein wichtiger Kompass. Auch die pädagogische Erfahrung kann ich mir in der politischen Arbeit mit den unterschiedlichen Akteuren und Gremien zunutze machen, denn da kommt es ja nicht selten darauf an, zu moderieren, anzuleiten und schließlich zu einem präsentablen Ergebnis zu kommen.
Frage: Sie stammen aus Siegen in Nordrhein-Westfalen. Nach Leipzig kamen Sie 1991 im Auftrag der evangelischen Kirche, um dort ein evangelisches Schulzentrum aufzubauen. Wie haben Sie die erste Zeit in Leipzig erlebt?
Jung: Jetzt könnte ich ganze Romane erzählen (lacht). Leipzig war damals eine Stadt, deren Luft man kaum atmen konnte, eine Stadt im Sanierungsstau, die vor riesigen Herausforderungen vor allem im Bereich Infrastruktur stand. Hinzu kam die Tatsache, dass viele Menschen in kurzer Zeit ihre Arbeit verloren. Allein 100.000 Arbeitsplätze in der Industrie waren davon betroffen. Das waren von daher sehr spannungsgeladene, sehr dichte Jahre. Aber es war auch eine unglaublich bewegende Zeit. Ich habe damals viele Menschen kennengelernt, die aus der Erfahrung der Friedlichen Revolution heraus Ungeheures geleistet haben. Da sprossen Initiativen, Vereine und Verbände aus der Erde. Vor allem Frauen haben sich im Bereich Schule und Soziales dafür eingesetzt, die Situation in der Stadt zu verbessern. Unternehmer haben das Heft in die Hand genommen und sind erfolgreich wirtschaftlich tätig geworden. Und das alles fand vor dem Hintergrund der geschichtlichen Aufarbeitung statt, der Frage nach Stasivergangenheit und politischer Verquickung mit dem SED-Regime. Schuldfragen wurden allerorten diskutiert. Ich selbst durfte in diesen Jahren eine Schule aufbauen, die mit einem großen Vertrauensvorschuss von vielen Eltern ausgewählt wurde, eine Schule, die wachsen und gedeihen konnte. Ich werde diese Jahre nie vergessen.
Themenseite: Katholikentag
In der Regel alle zwei Jahre finden Katholikentage statt - als nächstes vom 25. bis 29. Mai 2016 in Leipzig. Die Katholikentage verstehen sich als Foren des Gesprächs zwischen Kirche und Gesellschaft. Die Themenseite gibt einen Überblick über die katholisch.de-Berichterstattung zu den Katholikentagen.Frage: Wie schwer war es für Sie als praktizierender Christ, plötzlich in einem Umfeld tätig zu sein, in dem Glaube und Kirche für die meisten Menschen keine Rolle spielen?
Jung: Mir ist das zunächst gar nicht bewusst gewesen. Meine Schule wurde ja vor allem von Menschen nachgefragt, die aufgrund ihrer kirchlichen Bindung zu DDR-Zeiten Nachteile erfahren mussten. Ihnen haben wir eine Heimat geboten und hatten schon von daher eine sehr starke kirchliche Orientierung. Erst viel später habe ich erkannt, wie weit die Säkularisierung infolge des DDR-Regimes fortgeschritten war.
Frage: Das Leipzig der 1990er Jahre hat mit dem Leipzig von heute wenig zu tun. Wie haben Sie diesen Veränderungsprozess erlebt?
Jung: Ganz so würde ich das nicht sagen. Klar: Nach den schwierigen Jahren des Umbruchs und der Schrumpfung hat sich die Stadt in den letzten zehn Jahren wirklich rasant entwickelt, und zwar wirtschaftlich, sozial und auch demographisch. Und doch ist ein Teil des Geistes, der die 1990er Jahre in Leipzig geprägt hat, bis heute lebendig. Es gibt sehr viele Menschen hier, die noch immer aus der Erfahrung von 1989 heraus ihr Leben gestalten. Jedes Jahr am 9. Oktober veranstalten wir ein Lichtfest, um an die Friedliche Revolution zu erinnern. Da sind dann viele Tausend Menschen auf der Straße, alte und junge, zugezogene und verwurzelte, die sich die Geschichten von damals erzählen und aus der Erfahrung von damals die Gewissheit ableiten, dass sich Dinge friedlich und gewaltfrei verändern lassen. Während andernorts politische Lethargie beklagt wird, herrscht hier ein unruhiger Geist, der auf Veränderung drängt.
Frage: Was steht für die nächsten Jahre auf Ihrer politischen Agenda?
Jung: Die größte Herausforderung ist das rasante Wachstum unserer Stadt. Wir hatten 2015 prozentual die höchste Geburtenzahl in ganz Deutschland, und auch beim Zuzug stehen wir - ohne Flüchtlinge zu berücksichtigen - an zweiter Stelle. Das bringt große Herausforderungen bei den Kindertagesstätten, bei den Schulen und Sozialeinrichtungen und im Bereich Wohnungsmarkt mit sich. Wie verhindern wir eine Wohnungssituation, die zur Segregation führt? Wie erhalten wir die soziale Durchmischung der einzelnen Viertel? Um es zuzuspitzen: Meine Aufgabe ist es in den nächsten Jahren, Münchner Wohnverhältnisse zu verhindern, die Wirtschaft zu unterstützen, die Wohnqualität zu steigern und Leipzig attraktiver, kulturvoller und lebendig sich entwickeln zu lassen.