Pastoraltheologe Martin Lörsch über Reformen der Seelsorge

"Das ist noch ein langer Weg"

Veröffentlicht am 22.04.2016 um 00:01 Uhr – Von Björn Odendahl – Lesedauer: 
Seelsorge

Bonn ‐ Die Kirche brauche einen Paradigmenwechsel, doch der Weg zu neuen Seelsorgestrukturen sei lang, sagt Pastoraltheologe Martin Lörsch. Wie die neue Pfarrei aussehen könnte, erklärt er im Interview.

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Frage: Herr Lörsch, in vielen deutschen Diözesen reagiert man seit längerem mit Strukturreformen auf den Rückgang von Gläubigen und Priestern. Dennoch werden aktuell vermehrt Stimmen laut, die sagen: So, wie jetzt kann es nicht weitergehen. Wie kommt das?

Martin Lörsch: Ich glaube, dass wir in der Kirche erst langsam wahrnehmen, was Bischof Felix Genn schon vor Jahren vorausgesagt hat: Die bisherige Sozialgestalt von Kirche geht nicht zugrunde, sondern ist bereits zugrunde gegangen. Die vertrauten Bilder der Volkskirche aber sitzen noch in unseren Köpfen und beeinflussen das Sehen und Urteilen – bei Gemeindemitgliedern wie Seelsorgern. Wenn diese Bilder mit der Realität konfrontiert werden, kommt es zu Bruchstellen. Daher braucht es eine Verständigung über den Weg in die Zukunft und einen mutigen Paradigmenwechsel. Der ist allerdings mit Konflikten, mit Trauer und mit Abschied verbunden.

Frage: Viele Diözesen haben bereits erste Reformen umgesetzt oder zumindest eingeleitet. Wie bewerten Sie die?

Lörsch: Die meisten Diözesen haben Umstrukturierungen vorgenommen, immer häufiger in Form von Pfarreifusionen und der Bildung großer pastoraler Räume. Darin gibt es neben dem leitenden Pfarrern auch noch den Kooperator bzw. Pastor und die anderen pastoralen Mitarbeiter. Unter ihnen werden die bisher anfallenden Aufgaben verteilt. Ich habe den Eindruck, dass an vielen Orten die einzelnen pastoralen Felder, wie Vorbereitungen auf Erstkommunion und Firmung, weitergeführt werden wie bisher. Ein Umdenken hat noch nicht stattgefunden. Vielmehr wird in der Logik der Versorgung der Kirchengemeinden her gedacht. Darin sehe ich ein großes Problem: Vielerorts bleibt man in den vertrauten Denkmustern stecken und ist frustriert, wenn sich der Erfolg nicht einstellt. Aber als ehemaliger Pastor und Verantwortlicher für den Veränderungsprozess im Bistum Trier weiß ich: Es ist ein mühsamer Weg, die pastoralen Räume unter den Bedingungen der Spätmoderne neu zu denken, das Leben in ihnen geistlich zu kultivieren und die Pastoral mit vertrauten und neuen Formaten auszugestalten. Wir müssen ja darauf achten, dass möglichst alle Gemeindemitglieder die anstehenden Lernschritte mit vollziehen und Kirche unter den veränderten Vorzeichen von Säkularisierung, Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung buchstabierten.

„Vielerorts bleibt man in den vertrauten Denkmustern stecken und ist frustriert, wenn sich der Erfolg nicht einstellt.“

—  Zitat: Pastoraltheologe Martin Lörsch zur Realität kirchlicher Strukturprozesse

Frage: Man kann den Pfarreien vor Ort ein Umdenken ja nicht einfach von oben verordnen. Wie soll das also konkret funktionieren?

Lörsch: Für mich sind pastorale Projekte ein wichtiger Schlüssel Veränderungen umzusetzen. Ein Beispiel: Im saarländischen Neunkirchen wurde vor einigen Jahren das Projekt "Momentum. Kirche am Center" gestartet. In unmittelbarer Nähe zu einem riesigen Einkaufszentrum hat die Kirche einen Laden angemietet. Heute sind dort 60 Personen, vor allem Ehrenamtliche, aber auch Priester und pastorale Mitarbeiter engagiert. Sie haben ein offenes Ohr für die Menschen, die in den Laden kommen, sind Ansprechpartner in Lebensfragen, trösten, geben Hilfestellung und verweisen bei Bedarf auf die Fachstellen, die im Projekt vernetzt sind. Die Ehrenamtlichen im Projekt machen die Erfahrung: Wir sind respektiert und nehmen eine wichtige seelsorgliche Aufgabe wahr. Die Priester begegnen den Ehrenamtlichen im Team auf Augenhöhe und können sich mit ihnen über die gemeinsamen Erfahrungen auszutauschen. So geschieht gemeinsames Lernen in der Kirche.

Ein zweites Beispiel: Für die Pfarrer im Bistum Trier ist ein mehrteiliger "Unterstützungskurs" aufgelegt worden, um sich auf die veränderten Aufgaben und Rollen in den pastoralen Räumen vorzubereiten. Jeder muss im Laufe der fünf Kurseinheiten ein kleines pastorales Projekt durchführen und auswerten. Zwischen den Kursen treffen sich die Priester, um in Kleingruppen ihre Praxiserfahrungen zu reflektieren und die neuen Erkenntnisse in ihren Alltag zu integrieren.

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Das Konzept, Pfarreien zu größeren Seelsorgeeinheiten zusammenzufassen, hält der Paderborner Pastoraltheologe Herbert Haslinger für gescheitert. In einem Buch entwirft er nun einen Gegenvorschlag zu diesem Vorgehen vieler deutscher Diözesen.

Frage: In vielen Pastoralkonzepten werden auch Schulen, Kindergärten oder Krankenhäuser als solche neuen "Kirchorte" bezeichnet. Aber ist der Ansatz nicht etwas gutgläubig? Oder können dort wirklich Menschen für den christlichen Glauben gewonnen werden?

Lörsch: Ich denke schon, dass das funktioniert. Der Funke des Glaubens kann dort überspringen, wo Menschen vor Ort glaubwürdigen Christen begegnen. Dabei werden sie sich vielleicht fragen: Warum nimmst du dir Zeit für mich und was bedeutet dir der Glaube für dein Leben? Wenn diese Fragen im Raum stehen, dann kann man über den Glauben selbst ins Gespräch kommen. Dann ist es wichtig, dass Christen auch Auskunft über ihren Glauben geben können (vgl. 1 Petr 3,15). Dazu gibt es bereits Beispiele gelungener Praxis – auch in kirchlichen Einrichtungen, den künftigen Kirchorten. Darüber hinaus denke ich auch an die vielen verbandlichen Gruppen wie Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands oder Kolpingfamilien, die bereits heute viele Aufgaben eines solchen Kirchorts wahrnehmen oder übernehmen werden. Ferner denke ich an Projekte, in denen Caritas und Seelsorge "auf zwei Beinen" unterwegs zu den Menschen sind: bei Pfarrer Franz Meurer im Erzbistum Köln, im Bistum Mainz oder Trier. Wenn pastorale Räume gebildet werden, muss man deshalb von Anfang an diese Chancen sehen und diese Orte wahrnehmen und in die Überlegungen als ebenbürtige Partner einbeziehen: Dann kann sich die Familienpastoral in der Kindertagesstätte, die Schulpastoral im Schulzentrum, die Krankenpastoral am Standort des Krankenhauses neu verorten. Weil diese Kirchorte täglich mit den Fragen der Menschen konfrontiert werden, haben sie auch die Möglichkeit, dass sie konkrete Erfahrungen mit dem christlichen Glauben machen können. Deshalb empfehle ich, mit dieser Perspektive Kirchorte und Pfarreien zu entwickeln. Aber ich gestehe: Das ist noch ein langer Weg.

Frage: Für die Menschen vor Ort da sein, ist das eine. Zum Christsein gehört aber neben der Nächstenliebe auch der Empfang der Sakramente. Gewährleisten die neuen Konzepte, dass die Menschen auch wieder in die Kirche geholt werden?

Lörsch: Das Bild "Menschen in die Kirche holen" ist für mich eine etwas schillernde Metapher mit zwei Seiten: An erster Stelle steht für mich das konkrete Zeugnis von Christen. Wenn eine punktuelle Begegnung den Anderen angerührt hat, kann in ihm eine Bewegung in Gang kommen, die dann in eine Kirchenbindung einmündet. Damit kommt die zweite Ebene ins Spiel: Die Kirche als feiernde Gemeinde, der Ort der Gemeindeliturgie und der sonntäglichen Eucharistie. Hierbei müssen wir uns die Gewissensfrage stellen: Erfahren die Menschen, die zu ins in die Kirche kommen, "Kirche tut gut"? Können die Gottesdienstbesucher, die das Wort Gottes hören und die heilige Kommunion empfangen, gestärkt in den Alltag aufbrechen? Die vorrangige Aufgabe der Kirche ist für mich deshalb heute: Missionarisch Kirche sein, aufbrechen zu den Menschen und ihre Anliegen in der feiernden Versammlung der Gemeinde vor Gottes tragen. Dann wird die Kirche als Sakrament erfahren.

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"Wir müssen weg von der Versorgungslogik und hin zu einer Partizipationslogik" betonte Bischof Felix Genn am Mittwoch bei der Vorstellung des Dokumentes "Gemeinsam Kirche sein. Wort der deutschen Bischöfe zur Erneuerung der Pastoral".

Frage: Ihre Kirche und das dazugehörige Gemeindeleben waren aber immer das Herzstück der Katholiken vor Ort. Jetzt sieht es vielerorts so aus, als würden die von den Diözesen angestrebten Reformen von der Basis nicht mitgetragen. Ist die Kirche in Deutschland damit nicht zum Scheitern verurteilt?

Lörsch: Sie benennen ein sensibles Stichwort. Veränderungen gelingen nur, wenn man die Gläubigen vor Ort soweit wie möglich mitnimmt. Es ist deshalb ein großer Fehler, wenn Entscheidungen von oben getroffen und mit der Brechstange umgesetzt werden. Denn für viele treue Gläubige ist die Kirche am Ort ihre geistliche Heimat. Wenn diese in der vertrauten Gestalt keine Zukunft mehr hat und Abschiede anstehen, dann muss man den Weg in kleinen Schritten und unter Beteiligung der Gemeinde gehen. Es ist für mich schon eigenartig, dass gerade wir die Phase der Trauer oft überspringen. Nur wenn Trauer und Abschied zugelassen werden, lassen sich die Menschen auf neue Formate und Orte des Glaubens wie die oben genannten Kirchorte ein. Wenn man das nicht beachtet, werden Wunden geschlagen und vertreibt man die treuen Gläubigen aus ihrer Kirche. Aber ich weiß auch: Die tiefgreifende Veränderungen, die der Kirche ins Haus stehen, können Gemeinden überfordern. Die Seelsorger dürfen sie mit ihren Gefühlen nicht alleine lassen.

Frage: Die Reformen haben auch große Auswirkungen auf die Arbeit der Hauptamtlichen. Muss in diesem Zusammenhang nicht das Berufsbild von Priestern, Diakonen, Gemeinde- und Pastoralreferenten grundlegend überdacht werden?

Lörsch: Ich denke ja. Bereits das Zweite Vatikanische Konzil hat den Blick auf die Charismen und Kompetenzen aller Gläubigen gerichtet. Wir lernen gerade, wie unter diesem Vorzeichen Priester, Diakone, Pastoral- und Gemeindereferenten in je eigenen Weise ihren Dienst im Volk Gottes wahrnehmen werden. Das hat Konsequenzen für die Rollenprofile und den pastoralen Einsatz. Im Bistum Trier gibt es Überlegungen, dass Pfarreien künftige durch Pastoralteams geleitet werden. In diesem Team soll es neben dem Pfarrer, der den Dienst an der Einheit und die Spendung der Sakramente verantwortet, je zwei Fachleute für einzelne Ressorts, für die Verwaltung sowie für Projekte, Gemeinde- und Pfarreientwicklung und ehrenamtliche Leitungskräfte geben. So tiefgreifende Veränderungen haben Auswirkungen auf das Berufsbild aller pastoralen Berufe. Die theologischen und rechtlichen Fragen müssen in den Bistümern und durch die Deutsche Bischofskonferenz geklärt werden.

Frage: Muss sich dann zwangsläufig auch die Ausbildung der Hauptamtlichen ändern?

Lörsch: Das geschieht bereits. Die zukünftigen Geistlichen und Hauptamtlichen des Bistums Trier werden soweit wie möglich gemeinsam ausgebildet. Teamfähigkeit ist eine Schlüsselkompetenz für ein konstruktives Miteinander in den pastoralen Räumen. Genauso wichtig ist der Umgang mit Ehrenamtlichen. Hauptamtliche müssen befähigt werden, Menschen für einen ehrenamtlichen Dienst zu gewinnen, sie zu ermächtigen sowie geistlich und fachlich zu begleiten und diese als Partner zu behandeln.

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"Das System, wie es bisher besteht, ist am Ende", sagt Regens Hartmut Niehues über die Situation der Kirche in Deutschland. Im Interview mit katholisch.de erläutert er, warum die Priester teamfähiger werden und die Laien ihre eigene Berufung mehr wahrnehmen müssen.

Frage: Die Reformen erfolgen auch aufgrund eines drastischen Rückgangs der Priesterzahlen. Müssen kirchenrechtliche oder sogar dogmatische Änderungen vorgenommen werden, damit Laien künftig noch mehr Aufgaben übernehmen können?

Lörsch: Bereits heute ist theologisch und rechtlich mehr möglich, als vielen bewusst ist. Dabei verweise ich auf "Gemeinsam Kirche sein, Wort der Deutschen Bischöfe zur Erneuerung der Pastoral" vom vergangenen Jahr. Hier werden Perspektiven aufgezeigt, die in den Diözesen und vor Ort zu bedenken und umzusetzen sind. Ein konkretes Beispiel: Wenn in einer Großpfarrei die Seelsorge in den einzelnen Dörfern nicht mehr sichergestellt werden kann, dann hat der Bischof die Möglichkeit, ehrenamtliche Teams mit der Gemeindeleitung vor Ort zu betrauen. Von Erzbischof Ludwig Schick weiß ich, dass er diesen Weg im Erzbistum Bamberg bereits eingeschlagen hat. Ehrenamtliche beauftragt er mit einem seelsorglichen Leitungsauftrag für ihr Dorf, damit in den ländlichen Regionen und in einzelnen Dörfern das geistliche Leben und der Glaube nicht verdunsten und verloren gehen.

Frage: Wie sieht für Sie die Pfarrei der Zukunft aus?

Lörsch: Die Pfarrei der Zukunft stelle ich mir als einen pastoralen Raum vor, vergleichbar einem Netzwerk. Sie wird von einem Team geleitet, das für die Kommunikation nach innen und außen verantwortlich ist und für die Verbindung mit einzelnen Knoten sorgt. In diesem Team nimmt der Pfarrer die ihm zugeschriebenen Aufgaben wahr. Das Netzwerk setzt sich aus vielen Kirchorten als Knoten zusammen. Jeder Kirchort hat sein Gesicht und eine eigene Leitungsstruktur. Die katholischen Kindertagesstätten profilieren sich in der Pfarrei als familienpastorale Kirchorte. Sie sind dann auch die Erstanlaufstellen für Familien in Fragen der Erziehung oder bei der Vorbereitung einer Kindertaufe. Ein vergleichbares Grundmuster wäre beim Kirchort "Krankenpastoral" im Krankenhaus und in Bezug auf Gesundheit und Krankheit, Tod und Trauer in Bezug auf die Schulpastoral im Blick auf Kinder und Jugendliche zu bedenken. Wenn es künftig so viele und unterschiedliche Kirchorte geben wird, dann braucht es künftig nach innen und außen erkennbare Pfarrorte. Hier kommen die Christen am Sonntag zur Feier der Eucharistiefeier zusammen und bringen aus den Kirchorten die Anliegen und Sorgen mit, die in der Messe Gott anvertraut werden. So kann ich mir die Pfarrei der Zukunft vorstellen.

Zur Person

Professor Martin Lörsch hat den Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät Trier inne. Von seiner Priesterweihe im Jahr 1979 bis 2004 war er selbst in der Pfarrseelsorge an verschiedenen Stellen im Bistum Trier tätig.
Von Björn Odendahl