"Einfach erschreckend"
"Aktive Sterbehilfe für Kinder?" Für Belgien ist das seit Donnerstag keine Frage mehr. Das Parlament hat sie für Minderjährige zugelassen. Damit hat das Beneluxland weltweit als erstes Land diese ethische Grenze überschritten. Allen Protesten zum Trotz. Bis zuletzt hatten Gegner versucht, eine Gesetzesänderung zu verhindern. Katholische Bischöfe hielten Mahnwachen ab. Auch der Europarat meldete sich zu Wort, sprach vom "Verrat an einer Gruppe der am stärksten verwundbaren Kinder".
Unheilbar kranke Kinder und Jugendliche haben nun das Recht, selbst über den Zeitpunkt ihres Todes zu entscheiden. Egal, ob sie 3, 8 oder 17 Jahre alt sind. Zwar müssen auch die Eltern zustimmen, ebenso der behandelnde Arzt, weitere unabhängige Mediziner und ein Psychologe. Die eigentliche Entscheidung aber liegt beim Kind.
"Einfach erschreckend", findet Palliativmediziner Lukas Radbruch diese Entwicklung. Der Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus in Bonn befürchtet Entgleisungen, die mit der neuen Regel einhergehen. "Zu leicht können Äußerungen der Kinder falsch verstanden werden", warnt er.
Der Druck auf die Eltern steigt
Selbst gesunde Jugendliche in der Pubertät äußerten nicht selten Suizidgedanken. Das könne in der Krankheit schnell als Wunsch nach aktiver Sterbehilfe interpretiert werden. "Natürlich steigt auch der Druck auf die Eltern, der aktiven Sterbehilfe für ihr leidendes Kind zuzustimmen", so Radbruch. Die Situation, die auch so kaum auszuhalten ist, könnte dann durch Uneinigkeit in der Familie noch erschwert werden.
Hilflos mit anzusehen, wie das eigene Kind leidet und langsam stirbt, ist für Eltern so schmerzhaft, dass der eigentlich undenkbare Gedanke - das Leiden durch einen schnellen Tod zu verkürzen - plötzlich in greifbare Nähe rückt. Dabei gebe es durch die rasanten Entwicklungen in der Palliativmedizin viele Möglichkeiten, das Sterben erträglich zu machen, sagt Radbruch.
"Wenn ich früher auf die Palliativstation kam, hat immer jemand geschrien", berichtet der Arzt. "Heute schreit niemand mehr!" Schmerzen, Atemnot, Ängste, dass alles sei heute medizinisch in den Griff zu kriegen. "Wir können Sterbende in einen Dauerschlaf legen, wenn sie es wünschen. Wir können es auch so regulieren, dass sie tagsüber eine Weile wach sind und nachts durchschlafen." Schmerzen seien allerdings auch in Holland oder Belgien nur sehr selten Grund für aktive Sterbehilfe.
Einsamkeit und Verzweiflung
"Der Wunsch zu Sterben entsteht oft erst in der Einsamkeit und Verzweiflung." Darauf wiesen die katholischen Bischöfe jüngst in der Sterbehilfe-Debatte hin. Deshalb ist eine verlässliche spirituelle oder psychologische Begleitung am Sterbebett ebenso wichtig, wie eine medizinische. "Wenn schwerstkranke Menschen wissen, dass sie nicht alleine gelassen werden, dann ist der Wunsch nach Sterbehilfe sehr viel geringer", machte auch Bayerns Gesundheitsministerin Melanie Huml (CSU) anlässlich des bundesweiten Tages der Kinderhospizarbeit am vergangenen Sonntag deutlich.
Aber genau dieses Wissen ist laut Radbruch nicht genug verbreitet. "Das Hospizsystem in Deutschland hat die ehrenamtliche Begleitung in den letzten Jahren massiv ausgebaut, im stationären Bereich, aber auch ambulant", sagt der Palliativmediziner. Nach Angaben des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbandes wächst das Engagement in Deutschland seit den 80er Jahren stetig, so das derzeit rund 100.000 Menschen überwiegend ehrenamtlich in diesem Bereich arbeiten.
Allerdings hapere es hier und dort noch an der Zusammenarbeit mit Ärzten vor Ort, so Radbruch. Viele Hausärzte wüssten nichts von den Angeboten der Hospizdienste in ihrer Region. Er sei aber zuversichtlich, dass sich das bald ändern werde. "Ab diesem Jahr gehört für alle Ärzte das Fach Palliativmedizin zum Studium, ohne bekommt niemand mehr eine Approbation."
Die Menschen wollen aktive Sterbehilfe
Trotz dieser positiven Entwicklung hin zu einem Sterben in Würde zeigen Umfragen seit den 90er Jahren, dass die Mehrheit der Deutschen aktive Sterbehilfe befürwortet. 66 Prozent der Bürger sprechen sich etwa laut einer Erhebung des Meinungsforschungsinstitutes "YouGov" im Auftrag von "Zeit Online" für eine Legalisierung der Sterbehilfe aus.
„Jeder ist dazu berufen (…) das Leben zu lieben und ihm zu dienen, es anzunehmen, zu respektieren und zu fördern - besonders, wenn es zerbrechlich ist und Anteilnahme und Pflege braucht.“
Radbruch beobachtet diesen Trend mit Sorge, gerade weil er immer wieder sterbenskranken Menschen begegnet, die am Leben hängen. "Man kann nie im Voraus sagen, wie man sich in der Sterbesituation fühlt." Ob er daher auch Patientenverfügungen für schwierig hält? "Man kann eine schriftliche Verfügung ja im Prinzip mündlich widerrufen. Aber wie geht man als Arzt damit um, wenn eine demente Frau auf dem Weg in den OP plötzlich 'Nein!' ruft?"
Ähnliche Erfahrungen hat Inge Jens, Ehefrau des verstorbenen Schriftstellers Walter Jens, gemacht. Ihr demenzkranker Mann habe sich als Gesunder für Sterbehilfe ausgesprochen und eine entsprechende Patientenverfügung. "Und als Kranker hat er leben wollen", sagt sie dem "Zeit"-Magazin . Während seiner Krankheit habe er in bewussten Momenten immer wieder gerufen: "Nicht totmachen!" An anderen Tagen sagte er aber auch: "Ich will nicht mehr, ich will sterben."
Es ist die wohl schwierigste Frage, die man einem Menschen stellen kann. Und in Belgien sollen diese nun Kinder beantworten. "Jeder ist dazu berufen (…) das Leben zu lieben und ihm zu dienen, es anzunehmen, zu respektieren und zu fördern - besonders, wenn es zerbrechlich ist und Anteilnahme und Pflege braucht", lautet indes die klare Antwort von Papst Franziskus .
"Ich habe noch nie erlebt, dass sich ein sterbenskrankes Kind aktiv den Tod gewünscht hätte", so der Palliativmediziner Radbruch. Im Gegenteil, gehe es ihnen darum, das auszukosten, was vom Leben bleibe. Und - so seine Erfahrung: "Viele Kinder erleben gerade diese letzte Zeit als besonders lebenswert."
Von Janina Mogendorf