Franziskus – ein Häretiker?
Eigentlich geht es um Liebe. Doch wo Liebe ist, da herrschen mitunter auch Zwist und Zweifel. Im vergangenen Jahr veröffentlichte Papst Franziskus sein Schreiben "Amoris laetitia" zu Ehe und Familie. Darin deutete Franziskus an, dass in Einzelfällen Katholiken, die nach einer Scheidung zivil erneut geheiratet haben, zur Kommunion zugelassen werden könnten. Seither will die Debatte über die Position des Papstes nicht abreißen, auch wenn der in einem jetzt veröffentlichten Brief an die argentinischen Bischöfe seine Haltung noch einmal bekräftigte.
Zweifel, lateinisch "Dubia", meldeten vor gut einem Jahr die vier Kardinäle Joachim Meisner, Walter Brandmüller, Carlo Caffara und Raymond Leo Burke an. An den Papst ging eine Liste mit Fragen, die eine Antwort mit "Ja" oder "Nein" ermöglichen. Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein wenden sich auf diese Weise etwa Bischöfe an den Vatikan, um eine aus ihrer Sicht unklare Rechtslage eindeutig klären zu lassen.
Zwei der Autoren, der Kölner Kardinal Meisner und sein italienischer Amtsbruder Caffara, sind inzwischen tot. Eine Antwort des Papstes gibt es bislang nicht. Die zentrale Frage aus Sicht von Kardinal Brandmüller lautet: "Kann heute etwas gut sein, was gestern Sünde war?" Die Kardinäle wollen wissen, ob es wirklich Handlungen geben kann, die "immer und unter allen Umständen" sittlich verwerflich sind - wie zum Beispiel die Tötung eines Unschuldigen oder Ehebruch. "Sollte nun in der Tat die erste Frage mit Ja und die zweite mit Nein beantwortet werden - dann, ja dann wäre dies Irrlehre und in der Folge Schisma. Spaltung der Kirche", so Brandmüller.
Auf die Dubia folgte die Correctio
Ein Papst als Spaltpilz? Ende September griffen konservative Kritiker von Franziskus diese Vorwürfe auf - in einer "Correctio filialis de haeresibus propagatis" ("Kindliche Zurechtweisung über die Verbreitung von Häresien"). Franziskus habe "auf direkte oder indirekte Weise" häretische, also von der Kirchenlehre abweichende Standpunkte zu Ehe, Moral und Sakramentenlehre gefördert. "Respektvoll beharren wir darauf, dass Eure Heiligkeit öffentlich diese Thesen zurückweist", heißt es in dem Brief.
Die Unterzeichner, unter ihnen der deutsche Schriftsteller Martin Mosebach und der ehemalige Chef der Vatikanbank IOR, Ettore Gotti Tedeschi, verweisen auf Canon 212 des Kirchenrechts. Alle Gläubigen haben demnach "das Recht und bisweilen sogar die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, den geistlichen Herren mitzuteilen" und dies auch den anderen Gläubigen kundzutun.
Zuletzt wurde den Initiatoren zufolge Papst Johannes XXII. im Jahr 1333 in dieser Art und Weise von seinen "geistigen Söhnen und Töchtern" für Irrtümer ermahnt, die er später auf dem Sterbebett widerrufen habe. Dabei ging es um die Frage, ob die Seelen der Verstorbenen bereits vor dem Eintreten des Jüngsten Gerichts Gott und die Heiligen sehen können. Johannes XXII. vertrat die damals bereits überholte Position, dass dies nicht der Fall sei, wie die Berliner Historikerin Kerstin Hitzbleck erläutert.
Den Abschluss fand der Streit um die "visio beatifica" ("Anschauung Gottes") schließlich in der von Johannes' Nachfolger Benedikt XII. abgefassten Bulle "Benedictus Deus" aus dem Jahr 1336. "Danach wäre die Verbreitung der Gegenmeinung dann tatsächlich häretisch gewesen", so Hitzbleck. Welche Rolle bei dem Vorgang die "correctio filialis" spielte, ob es sie überhaupt gab, scheint nur schwer rekonstruierbar. Geläufiger ist die Form der "correctio fraterna", die "brüderliche Zurechtweisung" - üblicherweise in Ordensgemeinschaften und unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Frechheit und Härte vermeiden
Für das Mittelalter hält Hitzbleck fest: "Es war durchaus üblich, dass die Päpste mit ihren Kardinälen politische und theologische Themen diskutierten - und auch, dass die Kardinäle anderer Meinung waren als der Papst und dies auch kundtaten." Dazu komme, "dass die Untergebenen unter gewissen Umständen die Pflicht haben sich gegen Entscheidungen ihrer Oberen - und damit auch des Papstes - zu wehren und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen." Thomas von Aquin schrieb - unter Rückgriff auf die "brüderliche Zurechtweisung": "Sie darf also nicht mit Frechheit und Härte geschehen, sondern sie muss von Sanftmut und Ehrfurcht begleitet sein."
Doch davon unabhängig begleitet die Debatte über häretische oder geisteskranke Führungskräfte - "papa idoticus" oder "papa haereticus" - die Kirche seit der Antike. Liberius, Bischof von Rom zwischen 352 und 366, bekam als einer der ersten die Tücken des damals schon herausgehobenen Amtes zu spüren, wie der Düsseldorfer Althistoriker Bruno Bleckmann erläutert. Der Kirchenmann stellte sich gegen den Arianismus, der die Gottheit Christi verneinte. Sein Pech: Der römische Kaiser Constantius II. sympathisierte mit dieser Strömung - und installierte mit Felix II. einen "Gegenpapst". Zu einem "häretischen" Papst wurde Liberius allerdings wohl erst im Rahmen mittelalterlicher Legendenbildung.
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In der Geschichte der Päpste gab es viel "Sex and Crime" – aber noch mehr Durchschnittlichkeit. Der Historiker Volker Reinhardt sagt: Gerade die Päpste ohne nennenswerte Eigenschaften waren gut für das Amt.Der Vorgang zeigt jedoch: Kaiser, Könige oder Fürsten - sie nutzten immer wieder ihre weltliche Macht, um Druck auf den Papst auszuüben. Auch innerkirchlich konnte bis in die frühe Neuzeit hinein zum Teil recht deutliche Kritik formuliert werden. Flugblätter, Schmähschriften und Manifeste legen davon Zeugnis ab. "Weithin anerkannt war, dass der Papst abgesetzt werden konnte, und zwar wenn er Häresien verkündet", sagt der Wiener Theologe Thomas Prügl.
Wer aber durfte sich zum Richter aufschwingen - wenn doch über dem Papst eigentlich keine Instanz mehr existiert? Darüber gab es keinen Konsens, so Prügl. Und bis heute gibt es kein Verfahren, wie Barbara Engel-Ries feststellt. Die Kirchenrechtlerin legte 2002 die bislang letzte deutschsprachige Studie zu dem Thema vor. Auswege aus dem Dilemma suchten die Altvorderen - neben der Wahl eines "Gegenpapstes" - in der Verurteilung eines verstorbenen Papstes.
Papst kann nicht vor Gericht kommen
Ein sehr unrühmliches Beispiel ist die "Leichensynode" von 896, bei der Papst Stephan VI. über seinen Vorgänger Formosus Gericht hielt - und den Leichnam zu diesem Zweck in vollem Ornat auf die päpstliche Kathedra setzte. Einen Sonderfall stellt das Konzil von Konstanz (1414-1418) dar, dass es mit gleich drei amtierenden Päpsten zu tun hatte - und nach dem Rücktritt von Gregor XII. seine beiden Kontrahenten absetzte zugunsten von Martin V.
Der Vorwurf der Häresie wurde dabei nicht explizit formuliert; kein weiteres Konzil sollte sich in der Folge mehr über einen Papst stellen. Mit der Reformation begann ein Wandel im Amtsverständnis, wie Theologe Prügl erläutert. Aus dem "Herrn Papst" wurde mehr und mehr der "Heilige Vater". Mit dem 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil formulierten Unfehlbarkeitsdogma erreichte diese Entwicklung ihren Höhepunkt.
Auf das Kirchenrecht in seiner heutigen Fassung können sich nach Ansicht des Münsteraner Kirchenrechtlers Thomas Schüller weder die Kardinäle für ihre öffentlich verbreiteten "Dubia" noch die katholischen Laien für ihre "Correctio" berufen: "Nach Kanon 1404 kann der Papst von niemanden vor Gericht gezogen werden." Diejenigen, die derartiges trotzdem versuchten, seien wegen Ungehorsam gegenüber dem Papst zu sanktionieren. Auf derartigen öffentlichen Mobilmachungen liege "kein Segen".