Franziskus weckt das müde Europa
Millionen von Menschen auf der Suche nach Schutz und einem würdigen Leben streben nach Europa. Und ausgerechnet dass Europa ein Hoffnungsort für die Opfer von Krieg, Verfolgung und Armut ist, führt zum Überdruss an Europa in Europa. Im Westen droht der Brexit. Im Osten will nicht nur Orban die liberale Demokratie verabschieden. Eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, bei der alle EU-Staaten ihren Teil tragen, scheint nicht durchsetzbar. Und überall erstarken Nationalisten und Reaktionäre, die ihr Heil in Grenzen und dem Traum vom einheitlichen Volkskörper suchen – als wäre es nicht genau das, was die europäische Einigung nach hunderten Jahren Krieg überwunden hat.
"Was ist mit dir los, humanistisches Europa?", fragt Papst Franziskus in seiner Dankesrede zur Verleihung des europäischen Karlspreises. Das ist die verwunderte Frage des Argentiniers, der auf die Erfolge des europäischen Projekts blickt. Es scheint den Blick von außen zu brauchen für den Realitätsabgleich. Der Blick des Papstes sieht das Positive der europäischen Einigung ebenso wie die Krankheiten des Europas des Jahres 2016. Den Blick auf die große Friedensgeschichte wie die große Geschichtsvergessenheit des heutigen Europas, seiner Politiker und seiner Bürger.
Franziskus bleibt nicht bei der Frage stehen – er skizziert einen positiven Gedanken von Europa, hält ein leidenschaftliches Plädoyer für den Kontinent, den er noch vor kurzem als "unfruchtbare Großmutter" bezeichnet hatte.
Damit ist die Karlspreisrede die wohl politischste seines bisherigen Pontifikats, politischer sogar als seine Umwelt-Enzyklika "Laudato si" – politisch im besten Sinn: Er grenzt sich ab von einem Verständnis von Politik, das rein technokratisch, an Wirtschaftswachstum und Effizienz orientiert ist. Und er grenzt sich ab von einem bloß romantischen Politikverständnis, das sich in der Enge von Volk und Heimat in Abgrenzung vom Fremden und Anderen genügt.
Politik aus christlicher Tradition
Dagegen stellt er einen Politikbegriff, der fest in der christlichen Tradition verwurzelt ist, ohne konfessionell verengend und ausschließend zu wirken. Im Zentrum steht der Mensch und seine Würde, aber auch seine Verantwortung für Gemeinwohl und Gemeinwesen. Ohne den Namen auszusprechen, bezieht Franziskus sich damit auf einen geistigen Vater der europäischen Einigung wie der Erklärung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: den französischen Philosophen und Theologen Jacques Maritain und seinen "integralen christlichen Humanismus". Aus dem Exil in den USA in den 40ern schrieb er gegen die Ideologie des Nationalsozialismus an. Wo die Nazis nur das Kollektiv kannten, machte Maritain den ganzheitlichen Menschen in seiner Würde und Verantwortung für das Gemeinwohl als Zentrum und Ziel von Politik aus: Menschen sind weder isolierte Einzelne noch gehen sie in der Masse unter – Würde und Gemeinwohl sind verschränkt.
Dieses christliche Verständnis von Politik hat auch die großen Gründergestalten der europäischen Einigung geprägt. In großen Worten redet Franziskus von ihnen: Von Robert Schuman, Alcide De Gasperi, Konrad Adenauer – Männer, die vom Krieg gezeichnet und vom Christentum geprägt sich weigerten, in den alten Feindschaften zu verharren und stattdessen einen Raum des Friedens und der Freiheit aufbauten. Franziskus scheut hier keine Superlative: "Herolde des Friedens" und "Propheten der Zukunft" nennt er sie.
Was Franziskus an ihnen bewundert, ist der Mut, die europäische Tradition für einen umfassenden Humanismus fruchtbar zu machen, den es, wie er sagt, zu aktualisieren gilt in der Integration, im Dialog und in schöpferischer Tätigkeit. "Die europäische Identität ist und war immer eine dynamische und multikulturelle Identität" – das schreibt der Papst allen ins Stammbuch, die glauben, ihre Heimatländer in Abgrenzung vor Fremden bewahren zu können. Franziskus hält dagegen: Gerade in der Begegnung, im Dialog, im Zusammentreffen des Verschiedenen liegt der Reichtum, der Europa und seine Werte ausmacht.
Linktipp: Das Netz gratuliert dem Papst
Auf diese Preisverleihung schaute ganz Europa: Papst Franziskus hat den Karlspreis erhalten. Nun erreichen ihn Glückwünsche aus allen Himmelsrichtungen. Ein Stimmungsbild aus den sozialen Medien.Hat der Papst den Karlspreis verdient? Diese Frage haben einige gestellt, als die Entscheidung der Jury verkündet wurde. In der Erinnerung waren nur die harschen Worte von der unfruchtbaren Großmutter Europa, und auch sonst schien Franziskus der alte Kontinent herzlich egal zu sein, sein Blick eher auf die wachsende Peripherie der Welt und der Kirche gerichtet.
Der Richtige für den Preis
Mit seiner Dankesrede zeigt er, warum er eben doch genau der richtige für diesen Preis ist: Wer sonst kann heute so begeistert, so begeisternd von Europa sprechen? Wann hat man das letzte Mal so überzeugend jemanden von europäischen Werten und dem Wunder der friedlichen Integration nach den Weltenbränden der Weltkriege reden hören?
Europa ist müde, sagt der Papst. Seine Rede, sein Traum von einem Europa hat aber das Potential, den müden Kontinent aufzuwecken.