Synodenteilnehmer Michael Sievernich zur "Unterscheidung der Geister"

"Keine allgemeine Regelung"

Veröffentlicht am 29.10.2015 um 11:30 Uhr – Von Gottfried Bohl (KNA) – Lesedauer: 
Ein Mann mit grauen Haaren und Brille hält einen Vortrag
Bild: © KNA
Familiensynode

Frankfurt ‐ Nach der Familiensynode in Rom geistert ein Begriff durch die Debatten: die "Unterscheidung der Geister". Doch was verbirgt sich genau hinter diesem Begriff? Der Theologieprofessor Michael Sievernich erläutert das jesuitische Prinzip.

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Frage: Professor Sievernich, was versteht man unter der "Unterscheidung der Geister", von dem so viel die Rede ist nach der Synode?

Sievernich: Die Unterscheidung der Geister ist ein altes biblisches und geistliches Prinzip, das biografisch im Leben des heiligen Ignatius von Loyola, des Gründers der Jesuiten verwurzelt ist. In seinem autobiografischen "Bericht des Pilgers" schreibt er davon, welcher Geist ihn bei seiner Lebenswahl innerlich bewegte, als er mit einer schweren Verwundung aus dem Krieg darniederlag. Bei der Lektüre der Heiligenleben fragte er sich, ob er seine weltliche Karriere fortsetzen oder wie ein Franz von Assisi in die Nachfolge Christi eintreten sollte. Durch Unterscheidung der Geister nach dem Kriterium des Trostes fand er seinen Weg. Diesen Weg hat er in den Geistlichen Übungen zu einem methodischen Grundprinzip gemacht, wenn es um existenziell wichtige Dinge des Lebens geht. Auch in der Kirche und der Seelsorge geht es um solche Methoden der Unterscheidung.

Frage: Was ist der entscheidende Unterschied zur Kasuistik?

Sievernich: In der Kasuistik geht es um die äußere Anwendung von rechtlichen oder moralischen Regeln in bestimmten Fällen - casus -, um zu klären, was rechtlich oder sittlich erlaubt oder verboten ist. Möglichst für jeden denkbaren Einzelfall soll es hier eine exakt vorab festgelegte anwendbare Regelung geben. Unterscheidung der Geister meint dagegen einen inneren geistigen Prozess, der nicht nur nach Gut und Böse, Richtig und Falsch fragt, sondern auch nach dem Gesollten. Zum Beispiel: Habe ich eine Berufung oder nicht; soll ich heiraten oder nicht; bin ich auf einem guten Weg oder nicht?

„Unterscheidung der Geister ist ein Verfahren, eine Prozedur, um bei einer existenziellen oder pastoralen Frage Antworten zu finden.“

—  Zitat: Michael Sievernich

Frage: Heißt das, es gibt hier keine allgemeinen Regeln?

Sievernich: Unterscheidung der Geister ist ein Verfahren, eine Prozedur, um bei einer existenziellen oder pastoralen Frage Antworten zu finden. Dabei gibt es keine inhaltlichen Festlegungen, sondern formale Regeln, um in konkreten Situationen abzuwägen. Hauptkriterien sind der geistliche Trost, der vom guten Geist kommt, und die geistliche Trostlosigkeit, die vom bösen Geist kommt. Eine weitere Regel besteht darin, in Zeiten der geistlichen Trostlosigkeit oder inneren Niedergeschlagenheit keine Änderungen vorzunehmen oder wichtigen Entscheidungen zu treffen.

Frage: Was ist jetzt nach der Synode neu daran? Haben Seelsorger das nicht schon immer so gemacht?

Sievernich: Tatsächlich üben Seelsorger, die ja spirituell und theologisch ausgebildet sind, wie selbstverständlich die Kunst einer solchen Unterscheidung in pastoralen Situationen. Unterscheidung der Geister ist aber auch Sache aller Mitglieder der Kirche, wenn sie ihre Lebenssituation abwägen, auch mit Hilfe der Geistlichen. Ein Kriterium für Ignatius war biografisch die Tröstung, was bis heute gilt: Bin ich mit dieser Entscheidung oder Lösung im guten Geist getröstet, oder bleibe ich ungetröstet und unversöhnt?

„Im geschützten Raum der pastoralen Begleitung und des Sakraments der Versöhnung liegt die Chance, im großen Fluss der Barmherzigkeit angemessene Lösungen zu finden.“

—  Zitat: Michael Sievernich

Frage: Was glauben Sie: Wie wird der Papst diese Unterscheidung der Geister jetzt konkret umsetzen?

Sievernich: Der Papst setzt die Unterscheidung der Geister für die Gesamtkirche um, um durch seinen Petrusdienst die Einheit der Kirche zu wahren. Auch ist der synodale Weg ein Weg vielfacher kollegialer Unterscheidungen mit den Bischöfen, um die Zeichen der Zeit richtig zu deuten. Die Umsetzung liegt aber auch bei allen Christen: Sie müssen die Geister unterscheiden und die Zeichen der Zeit deuten.

Frage: Was bedeutet das in konkreten Fällen? Etwa wenn wiederverheiratete Geschiedene ihren Pfarrer fragen, ob sie nicht doch zur Kommunion gehen dürfen - um dieses besonders intensiv diskutierte Thema aufzugreifen?

Sievernich: Genau für solche Fälle gibt es keine allgemeine und verallgemeinerbare Regelung, da jede Situation eine Person mit ihrer eigenen Biografie und ihrem unverwechselbaren Kontext betrifft. Wohl aber gibt es für diese Fälle ein einheitliches Verfahren: Hier ist eine pastorale Unterscheidung der Situation erforderlich, da es große Unterschiede macht, ob jemand eine gültige Ehe durch sein Verhalten zerstört hat oder ob er jemand zu Unrecht verlassen worden und eine neue zivile Ehe eingegangen ist, die einen sittlichen Rang erlangt hat. Betroffene und Seelsorger werden unter Berücksichtigung der kirchlichen Vorgaben und der Gewissenssituation prüfen, welcher Zugang zu den Sakramenten, vor allem zu Buße und Kommunion möglich ist. Im geschützten Raum der pastoralen Begleitung und des Sakraments der Versöhnung liegt die Chance, im großen Fluss der Barmherzigkeit angemessene Lösungen zu finden. So können auch zivil geschiedene und wiederverheiratete Personen, die ja voll der Kirche angehören und nicht exkommuniziert sind, sich wieder stärker in das kirchliche und sakramentale Leben integrieren. Vielleicht hat ein Kind den Weg gezeigt, von dem ein Synodenvater sprach: Ein Erstkommunionkind sei zu seinen wiederverheirateten geschiedenen Eltern gegangen und habe mit ihnen die Hostie, den Leib des Herrn, geteilt.

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Video: © katholisch.de

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Zur Person

Michael Sievernich (*1945) ist emeritierter Professor für Pastoraltheologie und seit 1965 Mitglied im Jesuitenorden. Im Oktober nahm er an der Familiensynode im Vatikan teil.
Von Gottfried Bohl (KNA)