"Kirche muss keine Politik machen, aber ..."
Am 1. September wird in Brandenburg und Sachsen ein neuer Landtag gewählt. Laut aktuellen Umfragen hat die AfD in beiden Bundesländern Chancen, die Wahl zu gewinnen. Was würde das insbesondere für Sachsen bedeuten? Immerhin hat der Freistaat schon jetzt bundesweit einen Ruf als "braunes Bundesland". Darüber spricht der Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen, Thomas Arnold, im Interview mit katholisch.de. Außerdem äußert sich der Theologe zum politischen Klima in Sachsen, zu den Grenzen des Dialogs mit Pöblern, zur Rolle der Kirche im gesellschaftlichen Miteinander Sachsens und zu eigenen Fehlern im Umgang mit den Krawallen von Chemnitz.
Frage: Herr Arnold, in eineinhalb Wochen wird in Sachsen ein neuer Landtag gewählt. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Wahl?
Arnold: Auf jeden Fall ohne Angst. Vielmehr habe ich die Hoffnung, dass es bei der Wahl eine Mehrheit für Parteien gibt, die in ihrem Programm und mit ihrem Personal die menschliche Würde, die Freiheit und die Verantwortung des Einzelnen in den Mittelpunkt stellen. Das heißt aber auch: Wer von "Heimat" spricht, kann die Sehnsucht nach dem Wohl der Menschen nicht an der sächsischen Landesgrenze enden lassen.
Frage: Bestärkt Sie denn der bisherige Wahlkampf in Ihrer Hoffnung? Im Vorfeld gab es ja durchaus die Sorge, dass der Wettbewerb um die Wählerstimmen sehr konfrontativ und unfair werden könnte. Wie beurteilen Sie den bisherigen Verlauf des Wahlkampfs?
Arnold: Ich nehme den Wahlkampf bislang als fair wahr; die große Mehrheit der Parteien ist darum bemüht, sachlich für ihre Positionen zu werben. Wer allerdings – wie Parteien am rechten Rand – meint, aus dem Wahlkampf eine "Jagdsaison" machen zu müssen, hat wohl vergessen, dass diese unsachliche Rhetorik dazu ermuntert, Worten Taten folgen zu lassen. Emotion darf sein, aber immer zugunsten eines fairen und argumentativen Austauschs der unterschiedlichen Positionen.
Frage: Sie sprechen von "Parteien am rechten Rand" und meinen damit vermutlich vor allem die AfD. Wenn man sich die aktuellen Umfragen anschaut, hat die Partei weiterhin die Chance, als stärkste Partei aus der Wahl hervorzugehen. Was würde das für Sachsen bedeuten?
Arnold: Diese Frage stellt sich so noch nicht. Bis zum Wahltag am 1. September gilt es zu prüfen, welches Wahlprogramm mit dem eigenen Gewissen am besten kompatibel ist. Ich erlebe unsere Kirchen mit genialen Initiativen, um dabei Eckpunkte an die Hand zu geben und die zentralen Themen des Wahlkampfs aus christlicher Sicht zu beleuchten. Am Ende geht es doch um die Frage, wer für unser Land, also für die Menschen in Sachsen, am besten geeignet erscheint, Verantwortung zu übernehmen. Demokratie lebt von Alternativen, aber nicht von Abgrenzung. Ich kann mich hier nur Herrn Frank, dem Leiter des Katholischen Büro in Sachsen, anschließen: Wir geben als Kirche zwar ganz bewusst keine Wahlempfehlung ab, wir wollen den Menschen jedoch für ihre Entscheidung an der Wahlurne eine Hilfestellung anbieten. Klar ist aber auch: Nach der Wahl ist das Wahlergebnis – wie auch immer es ausfällt – zu akzeptieren. Auch das ist Demokratie.
„Streit gehört in einer Demokratie zwar dazu, das Ringen um verschiedene Positionen auch. Aber die Würde des Einzelnen darf nie in Frage gestellt werden.“
Frage: Sachsen stand in den vergangenen Jahren bundesweit immer wieder am Pranger – vor allem wegen der fremdenfeindlichen Pegida-Bewegung und der Wahlerfolge der AfD. Wie steht es kurz vor der Landtagswahl um das politische Klima im Freistaat?
Arnold: Uns steht nicht nur eine spannende Wahl bevor, sondern auch ein heißer Herbst, wenn ich etwa an die Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung denke. Man spürt in diesen Tagen im ganzen Land eine gewisse Anspannung, weil niemand vorhersagen kann, wie die Wahl ausgehen wird. Egal wie: Wir müssen als Kirche noch stärker unsere Komfortzone verlassen und uns aktiv in die gesellschaftliche Debatte einmischen. Das öffentliche Miteinander endet doch nicht mit einem neuen Landtag. Aber natürlich ist jede Wahl eine Zäsur. Ich sehe für uns in dieser Situation die wichtige Aufgabe darin, Angebote für die Verständigungsprozesse zu unterbreiten, wie wir künftig zusammen leben wollen und was uns dabei eint. Dialog, Dialog, Dialog – anders kommen wir nicht zueinander. Streit gehört in einer Demokratie zwar dazu, das Ringen um verschiedene Positionen auch. Aber die Würde des Einzelnen darf nie in Frage gestellt werden. Konkret: Wer sich öffentlich engagiert, das Gemeinwohl fördert oder politisch fair um Positionen ringt, muss in seinem Bemühen gewürdigt werden. Die, die nur pöbeln und beschimpfen, betonieren selbst das Stoppzeichen des Dialogs. Das ist eine Grenzüberschreitung, die eine Gesellschaft nicht dulden darf. Und die wir als Kirche nicht tolerieren dürfen.
Frage: Ihre Akademie hat in den vergangenen Monaten mit der Aktion "SachsenSofa" selbst aktiv versucht, den Dialog zu fördern und vor allem mit Menschen in den ländlichen Regionen des Freistaats über die Demokratie und das gesellschaftliche Miteinander ins Gespräch zu kommen. Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht?
Arnold: Wir haben mit dem "SachsenSofa" aus meiner Sicht etwas ganz Wichtiges geschafft: Wir haben einen Austausch zwischen Menschen ermöglicht, die unter normalen Umständen kaum miteinander ins Gespräch gekommen wären. Ich bin vor allem unseren prominenten Gästen auf dem Sofa dankbar, dass sie sich auf dieses Experiment eingelassen und teilweise weite Wege in abgelegene Regionen auf sich genommen haben, um abseits der großen Städte mit Menschen zu diskutieren, die medial und politisch sonst wenig Beachtung finden. Immerhin leben Zweidrittel der sächsischen Bevölkerung im ländlichen Raum. Das "SachsenSofa" hat zudem noch einmal deutlich gezeigt, wie wichtig Dialog für das gesellschaftliche Miteinander ist – insbesondere wenn es darum geht, Vorurteile abzubauen. Sie haben es angesprochen: Sachsen hat bundesweit einen Ruf als "braunes Bundesland". Aber natürlich gibt es hier auch ganz viele Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Dies stärker deutlich zu machen und wertzuschätzen war ebenfalls ein Ziel unseres Projekts.
Frage: Stichwort "Vorurteile": Im Verhältnis von Ost- und Westdeutschen knirscht es 30 Jahre nach dem Mauerfall gewaltig. Man hat das Gefühl, dass die Vorurteile und das Misstrauen zwischen beiden Landesteilen zurzeit sogar eher wieder zunehmen. Woran liegt das?
Arnold: Seit 30 Jahren erleben die neuen Bundesländer einen Exodus; fast 1,3 Millionen Menschen sind seit 1989 ins "Exil" in den Westen gegangen. Trotzdem ist es uns nicht gelungen, dass sich Ost- und Westdeutsche in den vergangenen drei Jahrzehnten ernsthaft zugehört hätten. Wir haben nach 1990 lange geglaubt, dass "der Markt" entscheidend sei und sich mit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung alle Probleme lösen ließen. Doch das war falsch. Das gemeinsame Gespräch und der Austausch über die unterschiedlichen Erfahrungen in Ost und West sind viel zu kurz gekommen. Nehmen Sie das Beispiel "1968". Mit diesem so wichtigen Jahr verbinden Ost- und Westdeutsche ganz unterschiedliche Erfahrungen: Im Westen steht 1968 vielfach für Freiheit und Aufbruch, im Osten wird das Jahr wegen der Niederschlagung des Prager Frühlings dagegen mit Gewalt und dem Verlust von Freiheit assoziiert. Dieses Beispiel zeigt: Wir müssen viel mehr Interesse und Verständnis für die unterschiedlichen Biografien aufbringen. Nicht, um wehmütig zurückzublicken und sich gegenseitig zu erzählen, wie toll man war. Sondern um sich darauf zu verständigen, was dem Anderen Hoffnung machen kann. Nur wenn es uns gelingt, den Dialog zwischen Ost und West deutlich zu beleben, werden wir die Vorurteile und Verhärtungen abbauen können. Mal ein Selbsttest: Wie viele Menschen mit einer Biografie des gesellschaftlichen Bruchs tragen denn in unserer Kirche in Deutschland Verantwortung? Gerade jetzt beim "Synodalen Weg" wünsche ich mir eine Kirche, die eine solche Perspektive mit berücksichtigt.
Frage: Noch einmal zurück zum "SachsenSofa". Inwieweit war dieses Projekt auch eine Reaktion auf Versäumnisse der Kirche im Umgang mit AfD, Pegida und Rechtsextremismus? In einem Beitrag für die "Zeit"-Beilage "Christ & Welt" sind Sie Mitte Juli hart mit der Kirche ins Gericht gegangen und haben ihr mit Blick auf die Anfangszeit von Pegida und die Ausschreitungen in Chemnitz im vergangenen Jahr Fehler vorgeworfen.
Arnold: Nicht andere haben Fehler gemacht, sondern ich. Das Bistum hat mir schließlich die Verantwortung für die Akademie übertragen. Als es zu den Ausschreitungen in Chemnitz kam, haben wir nicht mit Foren zur Diskussion über das veränderte Miteinander in der Region geantwortet. Es wäre dran gewesen, aber wir haben das verpasst. Ich sage dies, weil ich natürlich immer wieder in meinem Verantwortungsbereich prüfen muss, wo wir mit unseren "Werkzeugen" Orte der Hoffnung sein können. Mir ging es deswegen in meinem Beitrag gerade mit Blick auf das Entstehen von Pegida 2014/2015 nicht darum, auf die damals Verantwortlichen draufzuhauen. Ich weiß natürlich, dass damals von der Bistumsleitung und vom Katholischen Büro zahlreiche Initiativen angestoßen wurden, um auf Pegida zu reagieren und sich als katholische Kirche gegenüber dieser Bewegung zu positionieren. In meinem Beitrag konnte ich aufgrund des begrenzten Platzes nicht im Detail darauf eingehen. Meine Intention war aber auch eine andere: Ich habe mich gefragt, wie ich als Akademiedirektor künftig auf eine ähnliche gesellschaftspolitische Herausforderung reagieren würde. Unsere Akademie liegt im Zentrum der Dresdner Innenstadt, wir wären räumlich mittendrin im Geschehen. Daraus – und aus unserer gesellschaftlichen Verantwortung als Christen – leitet sich für mich der Anspruch ab, auch inhaltlich mittendrin zu sein.
„Christen sind durch ihren Glauben dazu aufgerufen, politisch zu sein und sich in den demokratischen Staat einzubringen.“
Frage: Wie kann das konkret aussehen? Immerhin vertritt die katholische Kirche in Sachsen nur rund vier Prozent der Bevölkerung. Werden Sie vor diesem Hintergrund überhaupt gehört?
Arnold: Definitiv, das haben wir beim "SachsenSofa" beispielhaft erlebt. Kirche hat aus dem Glauben heraus etwas zu sagen, und sie wird gehört – auch in Sachsen. Für mich ist klar: Sollten in Dresden irgendwann wieder in größerem Stil Menschen auf die Straße gehen und Protest artikulieren, müssen wir unsere Akademie für diese Menschen öffnen. Vielleicht gehört es auch zu unserer Aufgabe, komplexe Strukturen offenzulegen. Denn die Welt ist nicht einfach. Und deswegen sind es die Antworten auf unsere Probleme auch nicht. Solange sie die menschliche Würde nicht untergraben, müssen wir unterschiedlichen Meinungen und Überzeugungen ein Forum bieten und in diesem Kontext unsere christliche Position deutlich machen. Aber auch andere Sichtweisen aushalten – notfalls bis zur Schmerzgrenze.
Frage: Wenn man Ihren Text in der "Zeit" gelesen hat und Ihnen nun hier zuhört, kann man den Eindruck gewinnen, Kirche müsse es vor allem darum gehen, Politik zu machen...
Arnold: Nein, Kirche muss keine Politik machen, dafür gibt es Politiker – und zwar so viele, wie es wahlberechtigte Bürger in einem Land gibt. Der Wahlzettel ist doch nicht der Schein für den Protest, sondern die Möglichkeit, eigenen Überzeugungen eine Stimme zu geben. Aber natürlich muss sich Kirche in die Gesellschaft einbringen. Weil sie Menschen befähigen will, das Beste für das Land zu suchen. Kirche macht deswegen auf der Grundlage des Glaubens Mut, dass Menschen denken, sich einmischen und Dinge verändern wollen. Das Evangelium kann doch nur dann Wirkung entfalten, wenn sich Christen aus ihrem Glauben heraus gesellschaftlich engagieren. Letztlich bieten demokratische Strukturen die Voraussetzung, um sich an den politischen Prozessen zu beteiligen. Vor allem aber bietet ein liberaler Rechtsstaat die Freiheit, Verantwortung wahrzunehmen und sich für die Umsetzung eines christlichen Menschenbilds einzusetzen. Wir haben doch 1989/1990 gesehen, wie segensreich sich das Engagement von Christen auf die Friedliche Revolution ausgewirkt hat. So etwas würde ich mir mit Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen heute erneut verstärkt wünschen! Christen sind durch ihren Glauben dazu aufgerufen, politisch zu sein und sich in den demokratischen Staat einzubringen.