"Wir haben unseren Glauben nicht verraten"
Frage: Bruder Andreas, Sie haben ein Buch herausgegeben, das sich mit der Situation der Christen im Irak beschäftigt. Wie kamen Sie auf die Idee?
Knapp: Ich wohne in Grünau, einer großen Plattenbausiedlung am Stadtrand von Leipzig. Da es viel Leerstand gibt, zogen in den letzten Jahren Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak hierher in die Nachbarschaft. Ich habe mich um manche Belange des Alltags gekümmert, wie zum Beispiel Begleitung zu Behörden oder Hausaufgabenhilfe für die Kinder. Auf diese Weise kam ich immer mehr in Kontakt mit den Familien und habe ihre Geschichten kennengelernt. Das hat mich so bewegt, dass ich es aufgeschrieben habe.
Frage: Sie waren selbst vor Ort, haben einen nach Deutschland geflohenen Iraker zur Beerdigung seines Vaters in die nordirakische Region Kurdistan begleitet. Wie kam es dazu?
Knapp: Ich habe es mir vorher nie träumen lassen, einmal dorthin zu fahren. Das war ein Blitzbesuch - ganz überraschend und spontan. Wahrscheinlich war es gut, vorher nicht zu lange nachzudenken, sondern die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen.
Frage: Was hat Sie dort am meisten berührt?
Knapp: Die Situation der Menschen in den Flüchtlingslagern! Die Container-Siedlungen, in denen Tausende und Abertausende von Christen, Jesiden und Muslimen in einer wüstenartigen Gegend ohne Baum und Strauch leben - ohne Arbeit, ohne Chance, in absehbarer Zeit in ihre Heimat zurückzukehren. Und gleichzeitig ist das Tor in andere Länder verschlossen. Diese Menschen sind gezwungen, dort auszuharren. Mir ging es unter die Haut, die Kinder zu sehen, die sich in dieser Situation ganz sorglos bewegen. Die Eltern haben große Sorgen, welche Zukunft sie ihnen schenken können.
Frage: Ihr Buch beschäftigt sich vor allem mit den Christen dort...
Knapp: Das Tragische bei ihnen ist, dass sie nun alle vertrieben worden sind - aus dem letzten jahrtausendealten Siedlungsgebiet von aramäischsprachigen Christen. Aramäisch war ja schon die Sprache Jesu. Es gibt natürlich auch viele muslimische Flüchtlinge. Doch die Christen mussten aufgrund ihres Glaubens die Heimat verlassen. Bei den Muslimen geht es um konfessionelle Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten. Das ist ein innerislamischer Konflikt mit wechselnden Koalitionen, etwa mit den Kurden oder den Turkmenen.
Frage: Wie sieht der Alltag der Christen aus?
Knapp: Der Alltag heißt Zeit totschlagen. Warten, dass sie wegkönnen aus ihrer Heimat nach Kanada und Neuseeland, nach Australien, Schweden oder Deutschland. Es gibt keine Arbeit in den Lagern. Manche versuchen, in den Flüchtlingslagern ein Handwerk auszuüben, sie zimmern zum Beispiel Möbel aus Holzpaletten. Andere eröffnen einen kleinen Laden. Einige Lehrer bieten für die Kinder Schulunterricht an, damit es jede Woche wenigstens ein paar Stunden Schule gibt.
Frage: An einer Stelle ihres Buches sagt einer der Protagonisten, der christliche Iraker Wadid: 'Aber wir sind treu geblieben. Wir haben unseren Glauben nicht verraten.' Wie zeigt sich dieser Glaube?
Knapp: Ausdruck ihres tiefen Glaubens ist, dass sie in all der Armut und Ohnmacht nicht bitter, wütend und hasserfüllt werden. Sie haben in den Baracken Kapellen und Kirchen errichtet und feiern dort regelmäßig Gottesdienst. Sie leben in dem unbedingten Vertrauen: Gott wird uns eine Zukunft schenken, auch wenn wir sie jetzt noch nicht sehen.
Frage: Warum ist die Situation der Christen dort in den deutschen Medien kaum Thema?
Knapp: Eine schwierige Frage. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen ist das, was im Irak geschieht, vom Westen mitverschuldet. Diese Katastrophe ist durch die Invasion der USA und von Großbritannien und auch mit deutschen Waffen herbeigeführt worden. Als Mitschuldiger sieht man da nicht gerne hin. Zum anderen interessiert es die Öffentlichkeit wenig, wenn Christen ihres Glaubens wegen verfolgt werden. Wir leben in einer säkular geprägten Gesellschaft. Erst seit kurzem werden aufgrund der Begegnung mit dem Islam religiöse Themen viel stärker in der Öffentlichkeit diskutiert.
Frage: In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie ein irakischer Flüchtlingsjunge in Deutschland wegen seines christlichen Glaubens von muslimischen Mitschülern gehänselt wird. Inwiefern stehen die aus dem Nahen Osten geflohenen Christen auch hier unter Druck?
Knapp: Konflikte gibt es häufig, wenn Christen und Muslime in einem Flüchtlingsheim zusammenleben müssen. Ein Konfliktpunkt ist zum Beispiel die gemeinsame Küchennutzung. Das hängt mit den muslimischen Reinheitsvorschriften zusammen. Wenn Christen dort kochen, ist die Küche nach Ansicht vieler muslimischer Gruppen verunreinigt. Denn Christen essen Schweinefleisch - und sie sind eben keine Muslime. Ein Iraker erzählte mir, wie muslimische Kinder einen christlichen Flüchtlingsjungen geärgert haben, weil er Gummibärchen aß, die wegen der Gelatine nicht "halal" sind. Viele geflüchtete Christen bekennen sich zudem sehr bewusst zu ihrer Religion - beispielsweise mit einem Halskreuz oder einer Tätowierung. Muslime erleben das als Provokation. Eine christliche Familie unter fünfzig muslimischen muss sehr vorsichtig sein und sich bedeckt halten, um keine Konflikte heraufzubeschwören. Christen erleben oft, dass sie sich nun wieder verstecken müssen.
Frage: Was sind weitere Gründe für die Abneigung gegen Christen?
Knapp: In vielen muslimischen Ländern herrscht eine starke antichristliche Propaganda - etwa in den Moscheen und öffentlichen Predigten. Da wird viel gegen Christen gehetzt. Der Grund ist, dass man Christen und pauschal "den Westen" in einen Topf wirft. Viele Muslime denken, dass Kriege der USA im Namen des Christentums geführt würden. Vor diesem Hintergrund müssen Christen in Europa wie im Nahen Osten befürchten, dass dieser Hass sich an ihnen entlädt. Viele muslimische Flüchtlinge bringen diese Einstellung mit. Sie können nichts dafür, sie sind in einem solchen Umfeld von Propaganda groß geworden. Es ist ein Auftrag an unsere Gesellschaft, ihnen zu helfen, solche Vorurteile abzulegen, und Christen nicht pauschal als "Kreuzfahrer" oder "Muslimhasser" zu verurteilen. Bei diesem Lernprozess müssen wir viel Geduld haben.
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Menschen wie der selige Charles de Foucauld faszinieren auch 100 Jahre nach ihrem Tod. Einst ein umtriebiger Frauenheld, wandelte der Franzose sich zum asketischen Eremiten in der Wüste.Frage: Sollten christliche Flüchtlinge besonders geschützt werden, etwa durch separate Unterkünfte, wie es immer wieder in der Diskussion ist?
Knapp: Ghettos sind prinzipiell nicht hilfreich. Wichtiger ist es, eine gesellschaftliche Atmosphäre zu schaffen, in der Muslimen mit Respekt begegnet und gleichzeitig gefordert wird: In unserer Kultur und Gesellschaft darf es keine Diskriminierung wegen Religion geben. Bringt ihr solche Vorurteile mit, müsst ihr daran arbeiten. Ein Ansatz wäre es zum Beispiel, das Personal in den Unterkünften für die Belange der Christen zu sensibilisieren.
Frage: Würden die geflohenen Christen, die Sie kennen, diese Frage ähnlich beantworten?
Knapp: Ich kann mir vorstellen, dass sie es lieber gehabt hätten, in den Unterkünften mehr Ruhe und Frieden zu haben. Sie haben sich dazu nicht geäußert, aber es war zu spüren, dass die Zeit in der Unterkunft für sie sehr schwer war.
Frage: Der Politikwissenschaftler Bassam Tibi, gebürtiger Syrer und Muslim, fordert einen Reform-Islam. Muss der Islam sich ändern, damit die Integration in den westlichen Staaten gelingt?
Knapp: Der Islam als politische Wirklichkeit, wie er in den muslimischen Ländern gelebt wird, hat bei uns keinen Platz. In diesen Gesellschaften sind nur Muslime Bürger im eigentlichen Sinn. Nicht-Muslime sind Bürger zweiter Klasse, sie erleben Einschränkungen und Diskriminierungen. Bei uns gelten Religions- und Pressefreiheit. Denken Sie an die Anschläge auf die Redaktion des französischen Satire-Magazins "Charlie Hebdo". Man muss in Europa damit leben, dass es kritische Äußerungen zu bestimmten parteipolitischen oder religiösen Auffassungen gibt. Viele aufgeklärte Muslime in Deutschland und anderswo entwickeln eine andere Sichtweise des Islam. Die brauchen unsere Unterstützung.
Frage: Welchen Beitrag zur Integration der Flüchtlinge kann die Kirche leisten?
Knapp: Es passiert viel in den Gemeinden, ob Flüchtlingscafés, Begleitung bei Behördengängen oder Hausaufgabenhilfe für die Kinder. Diese Basisarbeit ist wichtig, sie bringt persönliche Kontakte - mit Christen, Jesiden und Muslimen. Auf dieser gemeinsamen Basis lernen wir, mit anderen Kulturen umzugehen. Und die Flüchtlinge lernen unsere Kultur kennen und hoffentlich schätzen.
Frage: Muss sich die Kirche vor allem für christliche Flüchtlinge einsetzen?
Knapp: Als Christen dürfen wir nicht unterscheiden. Jeder Mensch ist nach dem christlichen Glauben Bild Gottes. "Wir setzen uns nur für Christen ein und für andere weniger, weil sie keine Glaubensgenossen sind", wäre eine völlig falsche Grundhaltung und gerade nicht christlich. Wir müssen uns aber für Minderheiten einsetzen, die gefährdet sind. Das sind zum Beispiel Christen und Jesiden. Ist eine muslimische Minderheit gefährdet, müssen wir uns vor allem für diese einsetzen.
Frage: Was können Christen in Deutschland von den orientalischen Christen lernen?
Knapp: Wir können lernen, wie man als Minderheit in einer andersgläubigen Gesellschaft in Treue den Glauben weiterträgt. Das heißt, durch regelmäßiges Gebet, die Feier der Gottesdienste, die Liturgie, die Solidarität der Familien untereinander und die Orientierung am Evangelium. Christen aus dem Nahen Osten stehen für Gewaltfreiheit ein, dafür, nie zu den Waffen zu greifen. Wie Jesus für seine Verfolger betete, wollen sie das Böse, das ihnen angetan wird, nicht mit Bösem vergelten - sondern mit Gutem. An diesen Punkt zu kommen, das ist wahre menschliche Größe.