Christen im Irak: Sie wollen einfach nur weg
Im April war Angela Gärtner zuletzt im Irak, um sich persönlich über die Lage der Christen zu informieren. Sie ist Referentin für den Irak beim Hilfswerk Caritas international in Deutschland. Bei ihrem zurückliegenden Besuch reiste Gärtner auch in die von der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) befreiten christlichen Dörfer in der Niniveh-Ebene. Dort will das Hilfswerk Wiederaufbaumaßnahmen der irakischen Caritas unterstützen.
Frage: Frau Gärtner, noch vor einem Jahr hatte man die Befürchtung, die Geschichte des Christentums im Irak sei bald endgültig vorbei. Jetzt werden ehemals christliche Dörfer wieder befreit und Christen kehren zurück. Hat sich das Blatt gewendet?
Angela Gärtner: Unter den christlichen Familien ist der Wunsch, das Land zu verlassen, weiterhin extrem groß. Sie befürchten, dass sie in ihrer Heimat keine Zukunft haben. Gerade jetzt machen sich viele Leute angesichts der Kämpfe um Mossul große Sorgen, wie es mit dem Land weitergeht. Man ist sich einig, dass eine Befreiung von Mossul nicht das Ende des Konflikts im Irak bedeuten wird. Dann hätte man zwar den IS vertrieben. Aber es gibt auch die realistische Befürchtung, dass dann die Bruchlinien zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen noch größer werden. Und dann müssen sich die Christen fragen: Wo ist unser Platz in unserem Land?
Frage: Weil es nach einem Krieg immer auch Besiegte gibt?
Gärtner: Zunächst wird es nach diesem Krieg einen neuen Konflikt geben, und zwar um Ressourcen und Gebiete. Früher gab es eine gesellschaftliche Durchmischung, die in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. In Zukunft wird es eine noch deutlichere geographische Trennung zwischen den Gruppen geben: Sunniten, Schiiten, Kurden und eine Vielzahl von Minderheiten, zu denen etwa die Christen und Jesiden gehören. Alle müssen versuchen, sich irgendwo zu platzieren. Die Christen wissen einfach noch nicht, wo ihr Platz sein kann. Deshalb gibt es diesen Wunsch nach Auswanderung. Ich habe keine christliche Familie getroffen, die sich nicht für irgendein Auswanderungsprogramm beworben hätte.
Frage: Warum kehren die Christen dennoch in ihre befreiten Dörfer zurück?
Gärtner: Die Niniveh-Ebene war das traditionell christliche Siedlungsgebiet im Irak. Bevor der IS die Region eroberte, konnten die Menschen teilweise noch rechtzeitig nach Kurdistan fliehen. Dort leben sie seit mehr als zwei Jahren als Vertriebene. Meist sprechen sie kein Kurdisch, sondern nur Arabisch. Außerdem ist der kurdische Arbeitsmarkt komplett zusammengebrochen. Die Christen haben realisiert, dass ihre Lebensbedingungen dort auch in naher Zukunft sehr schwierig bleiben. . Da ist die Rückkehr in das Heimatdorf manchmal eine mögliche Alternative. Denn für die Meisten wird kurzfristig auch eine Auswanderung aus finanziellen Gründen nicht möglich sein.
Frage: Was erwartet die Christen in der alten Heimat?
Gärtner: Die christlichen Dörfer sind zum Teil befreit, auch von Minen und Sprengfallen. Aber es bleiben große Probleme. Einerseits gibt es natürlich enorme Zerstörungen, die eine Heimkehr unmöglich machen. Auf der anderen Seite sind die Zuständigkeiten oft noch nicht geklärt. Viele Gebiete, die früher der Zentralregierung unterstanden, wurden von den Peschmerga erobert. Es ist noch nicht klar, wo die Grenzlinien zwischen Kurden und Regierung verlaufen werden. Kurdistan ist derzeit bestrebt, noch mehr Autonomie zu erlangen. Dann stellt sich natürlich die Frage, wer in öffentliche Infrastruktur wie Wasser- und Stromversorgung oder Schulen investiert und wer für die Sicherheit garantiert. Im Moment sind es die Peschmerga, die die Dörfer kontrollieren. Aber wie sieht es in Zukunft aus? Solange das noch nicht klar ist, sind nur wenige Menschen bereit zurückzukehren. Bei meinem Besuch im April waren es hauptsächlich ältere Leute. Das lag auch daran, dass das Schuljahr noch lief. Familien mit Schulkindern waren daher in der Regel noch nicht zurückgekehrt.
Frage: Das heißt, dort wo sich die Christen jetzt aufhalten, haben die Kinder einen Schulplatz und die Eltern Arbeit?
Gärtner: Das wäre jetzt doch etwas arg rosig formuliert. Aber Kurdistan hat sich wirklich sehr bemüht; über eine Million Vertriebener wurde dort offen empfangen, was die Region an ihre Grenzen bringt. Zum Beispiel gibt es nur wenige arabischsprachige Schulen in Kurdistan. Teilweise wurden daher Schichten eingeführt und nachmittags wird Unterricht auf Arabisch gehalten. Außerdem gibt es wenige reine Vertriebenenschulen; deren Qualität ist aber kritisch zu sehen. Es ist also bei weitem nicht möglich, dass alle Kinder zur Schule gehen können. Auf dem Arbeitsmarkt sieht es ähnlich schwierig aus. Die Vertriebenen können sich teilweise vielleicht als Tagelöhner verdingen.
Frage: Ist also Kurdistan der relevante Partner beim Kampf gegen den IS und beim Wiederaufbau?
Gärtner: So pauschal kann man das nicht sagen. Um bei den Tatsachen zu bleiben: Die Niniveh-Ebene unterstand der Zentralregierung in Bagdad und wurde jetzt von den Peschmerga erobert. Für beide Seiten steht ein langer und schwieriger Prozess der Einigung an, wer die Kontrolle über welche Gebiete haben wird. Dabei geht es ja auch um wichtige Ressourcen, vor allem Erdöl.
Linktipp: Verachtet, vertrieben, vernichtet
Die Christen im Irak und den anderen Ländern des Nahen Ostens sind in ihrer Existenz massiv bedroht. Wo einst die Wiege des Christentums stand, leben die Gläubigen heute oft in ständiger Todesgefahr.Frage: Worin besteht die Aufgabe der Caritas vor Ort? Wie Sie sagen, wollen die Christen eher auswandern als zurückkehren. Sind Sie also im Grunde genommen Fluchthelfer?
Gärtner: Unsere Arbeit besteht darin, die Menschen in ihrer aktuellen Situation zu unterstützen. Wir helfen den Vertriebenen in Kurdistan etwa mit Bargeld. Unsere Analysen zeigen, dass wir mit dem Geld vor allem drei wichtige Bedürfnisse befriedigen. Ein erstes großes Feld ist die medizinische Versorgung. Zweitens erhalten die Menschen zwar über staatliche und UN-Programme eine Versorgung mit Nahrungsmitteln, aber diese ist sehr unregelmäßig. So können sie mit dem Geld auch Nahrung kaufen. Und drittens hilft das Geld auch die Mieten zu bezahlen, die extrem in die Höhe geschnellt sind. Daneben bieten wir psychosoziale Hilfen an. Dabei geht es darum, das Erlebte, die Flucht, zu verarbeiten. Wir wollen den Christen aber auch Perspektiven für die Zukunft im Irak aufzeigen. Für ein gutes Zusammenleben der verschiedenen Gruppen braucht es gegenseitiges Vertrauen in der Gesellschaft, das versuchen wir zu stärken.
Frage: Was ist die größte Herausforderung, mit der sie in Ihrer Arbeit zu kämpfen haben?
Gärtner: Wir brauchen vor allem Unterstützung durch Finanzmittel. Wir erhalten Gelder der Bundesregierung, aber das reicht natürlich nicht. Der Nahe Osten ist eine große Region mit extrem vielen Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Und es sieht nirgends so aus, als ob sich die Situation in naher Zukunft verbessern würde. Im Irak müssen wir eher davon ausgehen, dass es noch weiter eskaliert, dass sich der Bedarf noch vergrößern wird. Und dafür sind wir auf Spenden angewiesen.
„Ich habe keine christliche Familie getroffen, die nicht auswandern will.“
Frage: Würde es den Christen nicht mehr helfen, sie einfach in das nächste Flugzeug nach Westeuropa zu setzen?
Gärtner: So einfach ist das nicht. Es geht immerhin um die Heimat der Menschen. Und ich brauche nicht zu erklären, welche Bedeutung das Christentum in dieser Region hat.
Frage: Auf der anderen Seite haben Sie erklärt, dass die Rückkehrbereitschaft sehr gering ist und sich jeder um eine Auswanderung bemüht.
Gärtner: Die Leute sind tatsächlich sehr frustriert. Einige mussten schon mehrfach fliehen: Sie kommen etwa aus Bagdad, sind in die Niniveh-Ebene geflohen, nur um von dort ein paar Jahre später nach Kurdistan vertrieben zu werden. Und die Zukunftsprognosen sind auch alles andere als gut. Häufig sagen die Christen: "Ich kann das ertragen, aber welche Perspektive haben meine Kinder?" Dass dann der Wunsch besteht, in ein anderes Land zu gehen, ist nachvollziehbar. Auch wenn bei vielen nicht mehr diese naive Vorstellung herrscht, in Deutschland wäre alles prima und einfach. Die Angst davor, den eigenen Kulturkreis zu verlassen und in ein Land zu kommen, in dem eine ganz andere Sprache gesprochen wird und die Chancen, schnell und adäquat in den Arbeitsmarkt integriert zu werden, eher gering sind, beschäftigt die Menschen sehr.
Frage: Obwohl viele Christen nach Deutschland geflohen sind und hier Hilfe erfahren, hält sich hartnäckig die Behauptung, die Christenverfolgung würde totgeschwiegen oder zumindest abgetan. Was sagen Sie dazu, sind wir sensibel genug?
Gärtner: Das ist eine ganz schwierige politische Diskussion. Wie definieren wir Verfolgung? Die Menschen werden in Kurdistan nicht akut verfolgt. Aber was ist mit Perspektivlosigkeit oder dem Zwang zu mehrfachem Umzug? Ich glaube, dass die Situation für Christen im Irak nicht einfach und die Zukunftsprognosen für alle Minderheiten schwierig sind, wird allgemein anerkannt. Aber die Grenze zur Christenverfolgung zu ziehen, ist schwierig. Übrigens haben mich auch Christen im Irak gefragt: "Warum ist es für uns so schwer? Ihr wisst doch, wie es uns geht, wieso dürfen wir nicht einfach nach Europa auswandern?"
Frage: Tut die Kirche zu wenig für diese Menschen? Sprechen wir nicht genug über dieses Problem?
Gärtner: Es ist durchaus ein Thema. Es gibt zum Beispiel gute Beziehungen zwischen irakischen und deutschen Bischöfen. So einfach kann man das also nicht sagen. Unser erstes Ziel als Caritas international ist, dass wir die Menschen dort unterstützen, wo sie leben. Dabei sind wir aber abhängig von den extrem schwierigen Rahmenbedingungen. Und die Kirche ist sich dieser Komplexität bewusst.