"Er wird die Kirchenlehre nicht verändern"
"Trotz der Unterschiede in Größe, Führung und Geschichte, sind wir beide Weltmächte mit globalen Interessen und Einfluss." Dieser Satz stammt aus einem Bericht vom 14. März 2013, den die US-Botschaft beim Heiligen Stuhl an den damaligen Vizepräsidenten Joe Biden schickte. Biden sollte fünf Tage später an der Amtseinführung von Papst Franziskus in Rom teilnehmen. Der Bericht, der jetzt von der italienischen Tageszeitung "La Stampa" in Teilen veröffentlicht wurde, offenbart vor allem zwei Dinge: Erstens nehmen die USA den Heiligen Stuhl als eine Macht auf Augenhöhe wahr. Zweitens offenbaren die US-Diplomaten in ihrer Einschätzung des neuen Pontifex durchaus hellseherische Fähigkeiten.
Als Mann, der "zwischen der Neuen und der Alten Welt" stehe, könne der Papst eine Brücke schlagen zwischen den "konservativen und moderaten Flügeln der Kirche", heißt es in dem Papier. Einerseits sei er "entschiedener Gegner von Abtreibung, gleichgeschlechtlicher Ehe und Verhütung"; in diesen Punkten wird Franziskus als "strammer Konservativer" bezeichnet. Andererseits fühle er sich "der sozialen Gerechtigkeit zugunsten der Armen" zutiefst verpflichtet; das wiederum habe "Priorität für den sehr liberalen Flügel der Kirche".
In der Tat zeigte sich Franziskus in seinem Pontifikat bislang als strikter Abtreibungsgegner. So nannte er die Tötung ungeborenen Lebens in einem TV-Interview von 2016 ein "grauenhaftes Verbrechen" und eine "sehr schwerwiegende Sünde". Gleichgeschlechtliche Ehen schloss er in seinem nachsynodalen Schreiben "Amoris laetitia" aus: Es gebe im Plan Gottes "kein Fundament" für die Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften mit der Ehe, heißt es darin unter anderem. Was die Verhütung betrifft, überraschte Franziskus hingegen mit mancher Aussage: Bei gesundheitlichen Gefahren – etwa der Bedrohung durch das Zika-Virus – schloss er Verhütungsmittel nicht mehr generell aus. Gleichwohl verteidigte er den Inhalt der Enzyklika "Humanae vitae". Inzwischen legendär ist seine Aussage, gute Katholiken müssten sich trotzdem nicht "wie Karnickel vermehren".
Kirche für die Armen
Voll ins Schwarze trafen die US-Diplomaten mit ihrer Prognose zur Sorge um die Armen. Bereits in der ersten Audienz für Medienvertreter am 16. März 2013 formulierte Papst Franziskus, dass er sich "eine arme Kirche für die Armen" wünsche. Das bekräftigte er in seinem ersten Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" vom November 2013. Der Einsatz für Menschen, die von Armut und Ausbeutung betroffen sind, zieht sich bis heute als roter Faden durch das Pontifikat des lateinamerikanischen Papstes. Aufgrund seiner Herkunft musste dies nicht verwundern: Die "Option für die Armen", also der besondere Einsatz für die wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch Ausgeschlossenen, ist vor allem in der befreiungstheologisch geprägten Kirche Lateinamerikas zu Hause.
Weiter heißt es in dem US-Bericht, dass die Kurienreform für Franziskus "Priorität" haben werde. "Nicht nur um Skandale zu vermeiden" – namentlich genannt werden interne Machtkämpfe, die Vertuschung von Missbrauchsfällen sowie eine mangelnde Transparenz der Vatikanbank –, "sondern auch um eine Führung zu schaffen, die fähig ist, diese Herausforderungen anzugehen". Tatsächlich schuf Franziskus weniger als einen Monat nach seinem Amtsantritt mit dem "Kardinalsrat" (heute auch "K9-Rat") ein Beratergremium zur Reform der Römischen Kurie. Der Rat, in dem auch der deutsche Kardinal Reinhard Marx vertreten ist, arbeitet seitdem an der Umgestaltung und Erneuerung der Leitung der katholischen Kirche. Unter anderem wurden die "Päpstliche Kommission für den Schutz von Minderjährigen" gegründet sowie das vatikanische Wirtschaftssekretariat als Aufsichtsbehörde für alle wirtschaftlichen und finanziellen Belange des Vatikans.
Dass der Papst den Dialog mit den anderen Religionen verbessern beziehungsweise intensivieren werde, auch darin hatten die US-Diplomaten Recht. So sagte Roms Oberrabbiner Riccardo Di Segni im Jahr 2016, Franziskus habe die Beziehungen zwischen katholischer Kirche und Judentum bestätigt und bestärkt. Er habe zahlreiche jüdische Delegationen empfangen, Israel besucht und „wichtige Aussagen“ gemacht. Auch mit Vertretern des Islam traf sich der Papst mehrfach, besuchte mehrheitlich muslimische Länder wie Ägypten und die Türkei und sprach sich gegen den Pauschalvorwurf aus, der Islam als ganzer sei gewalttätig.
Viele revolutionäre Schritte
Befürchtungen der Diplomaten, dass es zu möglichen Spannungen zwischen den USA und dem Heiligen Stuhl kommen könnte, haben sich – zumindest nach außen – nicht bestätigt. Der Bericht nennt hierzu als möglichen Reibungspunkt den Übertritt von Millionen Katholiken zu evangelikalen Gruppierungen in Lateinamerika. "Oft werden diese Gruppen von den Vereinigten Staaten finanziert, was den Verdacht befeuert, dass amerikanische Protestanten den Katholizismus schwächen wollen", heißt es in dem Papier. Einen solchen öffentlichen Vorwurf gab es von Seiten des Vatikans unter Franziskus jedoch nicht. Im Gegenteil äußerte sich Franziskus mehrfach positiv über die Evangelikale Bewegung.
Mit einem Donald Trump konnten die Diplomaten damals natürlich noch nicht rechnen. Ihn mahnte Franziskus in seiner Gratulation zur Vereidigung, Sorge für die Armen zu tragen und moralische Werte zu schützen. Mit Blick auf Wahlkampfthemen wie den geplanten Mauerbau an der Grenze zu Mexiko sagte der Papst bereits vor der US-Wahl: "Jemand der Mauern statt Brücken bauen will, ist kein Christ."
Eintritt für Frieden und Demokratie, Ablehnung von Sterbehilfe und Todesstrafe, eine große Offenheit zum Dialog: In diesen Punkten wiederum behielten die US-Diplomaten hinsichtlich des Pontifikats von Franziskus recht. Ein weiterer Bericht, der "La Stampa" vorliegt und auf den 6. März 2014 datiert ist, wagte eine erste Zwischenbilanz. Mit dem Schreiben wollte die US-Botschaft beim Heiligen Stuhl den damaligen Präsidenten Barrack Obama auf sein erstes Treffen mit dem Papst vorbereiten. Darin heißt es unter anderem: "Trotz der vielen revolutionären Schritte von Franziskus wird er nicht versuchen, die Kirchenlehre zu verändern."
Gewiss: Papst Franziskus ist nicht der radikale Reformer, den sich manche vielleicht gewünscht hätten. Der Pontifex aus Lateinamerika treibt die Erneuerung der Kirche vielmehr in kleinen Schritten voran. Viele seiner Formulierungen lassen zudem einen gewissen Interpretationsspielraum zu – man denke etwa an die Aussagen zu wiederverheirateten Geschiedenen in "Amoris laetitia". Und: Er ist für Überraschungen gut – das hat der Fall Gerhard Ludwig Müller am Wochenende erneut bewiesen. Diese Vorgehensweisen schmecken jedoch nicht jedem. Liberalen gehen seine Reformen nicht weit oder schnell genug – Frauenweihe oder Zölibat sind für sie bleibende Themen –, Konservative sehen die traditionelle Lehre der Kirche dennoch in Gefahr. Ein Brückenbauer zwischen beiden Lagern, wie es der US-Bericht vom März 2013 prognostizierte, wird Franziskus in seinem Pontifikat somit sicher nicht mehr werden. Dennoch – und auch das ist sicher: Viele Gläubige sehen in ihm den richtigen Mann zur richtigen Zeit.