Wenn der Traum von Europa im Sterben liegt
Das Meer funkelt türkisblau, die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel herab. Es ist ein Postkartenmotiv, das sich dem Betrachter an der Küste des 20.000-Einwohner-Städtchens Pozzallo im Süden Siziliens bietet. Wäre da nicht dieser eine kleine Schönheitsfehler, der am Ende der felsigen Bucht die ansonsten makellose Landschaft durchbricht. Das ist sie also: die Tür nach Europa, der lang ersehnte Traum von Abertausenden Menschen, die sich auf die gefährliche Überfahrt von Afrika nach Europa gemacht haben.
Nach Freiheit und Wohlstand sieht diese Tür allerdings nicht aus. Denn das mächtige, drei Meter hohe Rolltor besteht aus stählernen Gitterstäben. Die Stangen sind hellblau gestrichen, so als hätte man verzweifelt versucht, sie irgendwie in die maritime Landschaft zu zwängen. Der Anstrich sieht frisch aus. Das Tor gehört zu einem von neun sogenannten Hotspots, die es mittlerweile an den südlichen EU-Außengrenzen gibt; vier in Italien, fünf weitere in Griechenland. Hier werden all die Menschen identifiziert, erstversorgt und registriert, die die Bootsfahrt über das Mittelmeer überlebt haben. Flüchtlinge, Wirtschaftsmigranten, illegale Einwanderer: Namen hat man in Europa viele für sie – je nachdem, ob man sie willkommen heißen oder wieder loswerden möchte.
Herausgeputzt für die deutsche Delegation
Der Hotspot hat sich an diesem Septembermorgen herausgeputzt für die deutsche Delegation rund um den Hamburger Erzbischof Stefan Heße. Der Flüchtlingsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz ist gekommen, um sich über die Lage vor Ort zu informieren. Was er vorfindet, ist ein rund 2.000 Quadratmeter großes Areal direkt neben dem Hafen von Pozzallo. Es ist von einem hohen Gitterzaun umgeben und wird von italienischen Streitkräften bewacht: Carabinieri, Heer, Marine. Auch die EU ist da, vertreten durch die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache "Frontex", das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) und Europol. Dazu kommen zahlreiche NGOs wie "Save the Children" und "terre des hommes". Sie alle stehen Spalier für den Besuch aus Deutschland. Es werden Hände geschüttelt, bevor der Rundgang beginnt.
Den Mittelpunkt des Hotspots bildet eine riesige Halle, in der es eigentlich nichts gibt außer Betten. Auch sie aus Metall, auch sie hellblau gestrichen. Als hätte ein – mittelklassiger – Innenarchitekt versucht, das "maritime Motto" vom Rolltor draußen hier drin wieder aufzugreifen. Es sind Doppelstockbetten, die mit einem Meter Abstand nebeneinander stehen. Die Decken sind akkurat umgeschlagen. Die Anwesenheit des Militärs ist also auch hier sichtbar. Etwa 200 Schlafplätze sind es in der großen Halle insgesamt. Dazu noch einmal rund 100 weitere in kleineren Nebengebäuden. Der Fußboden besteht teils aus Holz, teils aus Linoleum. Natürlich blau. Überraschenderweise ist es klinisch rein und riecht ein wenig nach Chlor – wie in einem Schwimmbad. Nebenan die Toiletten und Duschkabinen. Auch hier kein Staubkörnchen.
Doch etwas verwundert noch mehr: Es sind kaum Flüchtlinge hier; vielleicht 50 bis 60 insgesamt. Sie sitzen auf ihren Betten, spielen Tischtennis oder versuchen – je nach Herkunftsland – im Nebenraum ein paar Brocken Italienisch, Englisch oder Französisch zu lernen: "Io mangio", "I eat", "Je mange" – "Ich esse". Wirklich viel kann man ihnen hier aber nicht beibringen. Denn im Normalfall bleiben sie nur zwei oder drei Tage, bis ihre Registrierung abgeschlossen ist und sie umgesiedelt werden.
Eigentlich maximal 72 Stunden...
Die Realität sieht jedoch häufig anders aus. So wie bei Lamin Suso. Der 17-Jährige hat die Frist von maximal 72 Stunden bereits überschritten. Er ist seit fünf Tagen im Hotspot von Pozzallo und erzählt nun von seiner langen Reise nach Europa: Aus seiner Heimat Gambia im Nordosten Afrikas ging es zunächst in den Senegal, dann weiter nach Mali über Algerien bis nach Libyen. Von dort hat ihn schließlich ein Boot mit hinaus aufs Mittelmeer Richtung Europa genommen. Fast ein Jahr war er unterwegs, hat in den jeweiligen Ländern in seinem erlernten Beruf als Schneider gearbeitet. Für das verdiente Geld hat er sich das Nötigste zu Essen gekauft und den Rest für die Überfahrt gespart. Etwa 1200 libysche Dinare (rund 750 Euro) hätten die Schlepper von ihm verlangt.
Die meisten Flüchtlinge in Pozzallo sind Schwarzafrikaner. Sie kommen aus Nigeria, von der Elfenbeinküste oder eben wie Lamin aus Gambia. Seine Familie hat er in seiner Heimat zurückgelassen. Über das Smartphone halten er und die anderen jungen Männer sporadisch Kontakt zu ihnen. In der Mitte der Halle steht deshalb extra ein großer Tisch mit drei überdimensionalen Ladestationen. Strom ist hier der einzige "Luxus" – neben einem Fernseher an der Wand.
Gerade in Libyen sei es schlimm gewesen, erzählt Lamin jetzt. Was genau vorgefallen ist, möchte er aber nicht sagen. "Es war hart, sehr hart", wiederholt er nur. Was Lamin nicht sagen will, berichten dafür die NGOs und Ärzte hier im Hotspot: In libyschen Internierungszentren soll es unter anderem zu Gewalt, sexuellem Missbrauch, Folter, Erpressung, Zwangsarbeit und Versklavung kommen. Nicht selten haben die Migranten gebrochene Arme oder Hände von den Knüppeln der Aufseher, vernarbte Rücken und Beine, einige sogar Schusswunden. "Vor allem aber sind sie psychisch geschädigt", sagt die Ärztin Cinzia Cuzzolin.
Wenn sie es überhaupt bis hier her schaffen. Rund 23.000 Flüchtlinge haben die Überfahrt offiziell nicht überlebt. Die Dunkelziffer liegt vermutlich aber weitaus höher. Angekommen sind seit 2014 mehr als 500.000 Menschen. Der Höchstwert aus dem Jahr 2016 betrug etwa 180.000. Doch die Zahlen sind rückläufig: Bis Anfang September dieses Jahres waren es "nur" noch 100.000 und damit rund 19 Prozent weniger als zum gleichen Zeitpunkt im Vorjahr. Im August sank die Zahl der Flüchtlinge im Vergleich zu 2016 sogar um 81 Prozent.
Warum nur noch so wenige Flüchtlinge ankommen
Das liegt an mehreren Faktoren: Zunächst hat Italien in diesem Sommer – wohl mit Genehmigung der EU – einen neuen "Verhaltenskodex" für nicht-staatliche Seenotretter erlassen. Der untersagt es den NGOs, libysche Küstengewässer zu befahren. Weil Italien und die EU zudem mit der libyschen Küstenwache kooperieren, haben einige Hilfsorganisationen ihre Mission auf dem Mittelmeer abgebrochen. Libyen selbst hat unterdessen die eigenen Maßnahmen verschärft und fängt vermehrt Schlepperboote ab. Andere Flüchtlinge schaffen es erst gar nicht mehr bis zur libyschen Küste, sondern werden in Internierungszentren festgehalten.
In Pozzallo sieht man vor allem diese Entwicklungen als Grund für den "guten Zustand" des Hotspots: Im vergangenen Jahr seien auch mal – weit über die Kapazität von 300 Schlafplätzen hinaus – 600 Menschen hier gewesen, heißt es. Wenn es wie aktuell nur 60 Flüchtlinge seien, könne es natürlich viel strukturierter, aufgeräumter und sauberer sein als damals.
Nachdem sich das frisch gestrichene Rolltor des Hotspots hinter der Delegation schließt und man wieder Meeresluft statt Chlor atmet, zieht Erzbischof Heße vorerst ein positives Fazit. Er nennt den Hotspot eine "vorbildliche Einrichtung" und lobt die gute Zusammenarbeit zwischen staatlichen Einrichtungen und den NGOs. Er wird sein Urteil später zumindest teilweise revidieren.
"Man hat Ihnen auf jeden Fall ein Theater vorgespielt", sagt Judith Gleitze von "Borderline Europe" bei einem Gespräch mit dem Bischof. Die Hilfsorganisation tritt für die Wahrung der Menschenrechte, insbesondere an den EU-Außengrenzen ein. Für jede größere Delegation – gerade aus dem Ausland – räume man die Hotspots leer, so Gleitze. Normal sei es weder so sauber noch so aufgeräumt. "Und Pozzallo ist einer der Hotspots, die am wenigsten funktionieren." Sie spricht von unbegleiteten Minderjährigen, die aus rechtlichen Gründen gar nicht dort bleiben dürften, es aber häufig länger täten als die Älteren. Und davon, dass die Verpflegung meist schlecht sei und Flüchtlinge sogar weggesperrt würden. Allerdings glaubt auch Gleitze, dass sich die Zustände durch die ausbleibenden Migranten zumindest leicht verbessert haben dürften.
Die Hotspots sind erst der Anfang
Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. Und die Wahrheit ist auch: Die Hotspots sind medial zwar sehr präsent, aber nicht das einzige Problem. Obwohl die Migrantenströme nach Italien spätestens mit dem Sturz des libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi 2011 stark angewachsen sind, ist die Flüchtlingspolitik des Landes weiterhin unstrukturiert. "Die Regierung behandelt das Thema Migration noch immer wie eine Notsituation", sagt etwa Kardinal Francesco Montenegro, zu dessen Erzdiözese Agrigent auch die "Flüchtlingsinsel" Lampedusa gehört. Solange das so sei, blieben klarere Gesetze aus und könne Integration kaum gelingen. Erst in diesem Jahr hat der Staat etwa ein erstes offizielles Integrationsprogramm für anerkannte Flüchtlinge eingeführt. Noch Ende 2016 waren rund 132.000 Asylbewerber in Notunterkünften untergebracht. 15.000 Menschen lebten in Erstaufnahmeeinrichtungen und weitere 30.000 in Anschlussunterbringungen.
Die Kirche versucht – ähnlich wie in Deutschland – auch in Italien ihren Beitrag zu leisten. Etwa 20 Prozent aller Flüchtlinge im Land werden von kirchlichen Einrichtungen wie der Caritas und anderen Hilfsorganisationen betreut. Eine kleine Zahl ist direkt in den Pfarreien und Gemeinden vor Ort untergebracht. Rund 25 Prozent der anfallenden Kosten trägt die Kirche selbst. Das restliche Geld kommt aus staatlichen Zuschüssen. Wenn es denn kommt. So berichten etwa die Verantwortlichen des "Istituto Salesiano Sacro Cuore", eines Aufnahmezentrums für minderjährige Flüchtlinge, dass die Gelder seit März ausbleiben. Das Personal bleibt trotzdem. Es ist ihnen eine Herzensangelegenheit, wie sie beteuern.
Erzbischof Heße hat am Ende seines Besuchs auf Sizilien "den Eindruck, dass der italienische Staat an seine Kapazitätsgrenzen kommt". Was das für die Flüchtlinge bedeutet, weiß auch in Italien selbst kaum jemand. Finanzielle Unterstützung seitens des Staates erhalten sie nur kurze Zeit. Frauen werden danach häufig in der Zwangsprostitution gezwungen, die jungen Männer oft als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, etwa bei der Tomatenernte oder als Tellerwäsche. Wer sich über die 25 Euro Tageslohn beschwert, der wird erpresst. Denn Schwarzarbeit ist natürlich auch in Italien verboten.
"Ich würde gerne hier in Italien bleiben und in meinem alten Beruf als Schneider arbeiten", sagt Lamin aus dem Hotspot in Pozzallo. Wie und wohin es für ihn konkret weiter geht, wenn er das Registrierungszentrum bald verlassen wird, das weiß er aber nicht. Genauso wenig wie der Staat. Doch Lamin klammert sich an seinen Traum – von Freiheit und Wohlstand in Europa. Hoffentlich stirbt der Traum nicht.