Cornel Sieber untersucht im medizinischen Komitee von Lourdes Heilungen

"Wir würden das Wort Wunder nie in den Mund nehmen"

Veröffentlicht am 30.01.2018 um 00:00 Uhr – Lesedauer: 
Wallfahrt

Nürnberg ‐ Innere Medizin und Geriatrie sind die Fachgebiete von Cornel Sieber. Doch nebenbei untersucht er ungewöhnliche Heilungen im Wallfahrtsort Lourdes. "Wunderprüfer" möchte Sieber aber nicht genannt werden.

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Unter den Millionen Pilgern, die in das südfranzösische Lourdes wallfahren, sind auch viele Kranke, die auf Genesung hoffen. Tatsächlich melden sich jährlich einige Dutzend Menschen, die überzeugt seien, in Lourdes von ihren Beschwerden oder einer Krankheit geheilt worden zu sein, berichtet der Altersmediziner Cornel Sieber. Der 58-Jährige gehört seit vier Jahren dem internationalen medizinischen Komitee von Lourdes (C.M.I.L.) an, das solche Fälle aus wissenschaftlicher Sicht prüft. Neben Sieber gehört nur ein weiterer in Deutschland praktizierender Arzt dem gut 30 Mitglieder starken Gremium an. Im Interview berichtet Sieber über die Arbeit im Spannungsfeld zwischen Glaube und Wissenschaft.

Frage: Professor Sieber, wie wird man Wunderprüfer von Lourdes?

Sieber: Zunächst: Wir sind keine Wunderprüfer und würden als medizinisches Komitee das Wort Wunder nie in den Mund nehmen. Das steht uns nicht an, sondern alleinig der katholischen Kirche; wir würden dadurch auch unsere Glaubwürdigkeit verlieren. Als Fachspezialisten sind wir völlig neutral und beurteilen in wissenschaftlichen Gutachten, ob ein Vorfall, der sich während einer Lourdes-Pilgerreise erreignet hat und gemeldet wird, medizinisch erklärbar ist oder nicht. Für das medizinische Komitee wurde ich damals vorgeschlagen. Voraussetzung ist eine gute Reputation und dass man fachlich und menschlich in das Gremium passt. Ich bin wohl auch deshalb ausgewählt worden, weil ich als in Deutschland tätiger Schweizer mehrere Sprachen spreche und weil Experten aus den Fachgebieten Innere Medizin und Altersmedizin gebraucht werden. Wir arbeiten für das Gremium ehrenamtlich.

Frage: Wie sieht die Arbeit des Komitees aus?

Sieber: In Lourdes gibt es ein medizinisches Büro. Dort kann man sich melden, wenn man der Überzeugung ist, man sei in Lourdes von seinen Beschwerden oder Krankheit geheilt worden. Der dort fest angestellte Arzt nimmt die Fälle auf, erstellt eine Akte und holt sich das schriftliche Einverständnis ein, dass der Arzt aus dem Komitee, der mit dem Fall betraut wird, weitere Unterlagen anfordern darf. Wir als Mitglieder erhalten dann je nach Fachgebiet Fälle zuerkannt und klären die Krankengeschichte nach Aktenlage ab. Wir treffen uns einmal im Jahr im Spätherbst und besprechen dann vor Ort diese Fälle. Wenn über den Abschluss eines Falles in geheimer Wahl abgestimmt wird, ist eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich. Dann geht der Fall an den Bischof der Diözese des Patienten. Der Bischof kann sofort unsere Entscheidung anerkennen, darf aber auch eine weitere Beurteilung von lokalen Experten einfordern.

Frage: Wie viele Fälle haben Sie bereits bearbeitet?

Sieber: Zwei. Die Arbeit ist recht aufwendig und kostet viel Zeit. Bei einem Fall musste ich 25 Jahre zurück recherchieren und Akten anfordern, die sich nicht mehr in Archiven finden ließen. Bei meinem ersten Fall – der mir unerklärlich vorkam – war es so, dass die bereits hochbetagte Frau starb, kurz bevor ich dem Komitee meine Ergebnisse präsentieren konnte. Wenn die Krankheit wiederkehrt oder die Person stirbt, verfolgen wir den Fall nicht mehr weiter. Es kommt auch vor, dass etwa ein bösartiger Tumor anscheinend verschwindet – mit so einem Fall bei einer Frau aus dem deutschsprachigen Raum war ich betraut. Da ich kein Onkologe bin, holte ich mir fachlichen Rat eines Kollegen. Dessen Einschätzung und weitere Daten zu dem speziellen Fall stelle ich dann auf unserer Sitzung vor. Fast immer haben die Kollegen Nachfragen und fordern weitere Daten oder Untersuchungen an, sodass der Fall wieder an mich zurückgegeben und im nächsten Jahr weiter diskutiert wird.

Chefarzt Cornel Sieber
Bild: ©Moosburger

Cornel Sieber ist Chefarzt der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Geriatrie am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Regensburg, Direktor des Instituts für Biomedizin des Alterns der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und seit 2014 Mitglied im internationalen medizinischen Komitee von Lourdes (C.M.I.L.).

Frage: Von den 7.000 Heilungen, die in Lourdes geschehen sein sollen, wurden bislang nur 69 Fälle als echte Wunder anerkannt. Warum nur so wenige?

Sieber: Hier muss man unterscheiden zwischen unserer Arbeit und dem Entscheid der Bischöfe. Wir testen die Fälle stringent nach dem aktuellen medizinischen Wissen. In den vier Jahren, in denen ich nun dabei bin, haben wir zwei Fälle mit der Aussage abgeschlossen: "Diese Heilung können wir derzeit nicht erklären". Sie wurden acht beziehungsweise 15 Jahre lang geprüft. Das ist bereits eine überproportional hohe Zahl, normalerweise wird fast alles negativ entschieden. Dabei behaupten wir nicht, etwas sei generell unerklärbar, sondern sagen, dass es nach gegenwärtigem Stand der Wissenschaft nicht erklärt werden kann. Das kann sich binnen weniger Jahre ändern und so erlauben wir uns je nach Situation einen großzügigen Zeitraum für unsere Gutachten.

Frage: Steht das Komitee unter keinem Zeitdruck?

Sieber: Nein, wir spüren überhaupt nicht den Druck, bei unserer Arbeit großzügig zu sein, nur weil ein Fall alle paar Jahre "quasi" marketingtechnisch gut für Lourdes wäre. Ganz im Gegenteil. Das Gremium ist da, um die Solidität durch detaillierte gutachterliche Arbeit zu betonen; dass es Dinge gibt, die wir nicht erklären können. Insgesamt gelten rund 2.000 Fälle als "medizinisch unerklärlich" – aber nur ein jeweiliger Ortsbischof kann eine Genesung zu einem Wunder erklären. Das passierte zuletzt im Jahr 2013 in Italien und war das 69. von der Kirche zu einem Wunder in Lourdes erklärte Ereignis.

Frage: Wirkt der Ort Lourdes heilend auf die Menschen?

Sieber: Es gibt tatsächlich regelmäßig Fälle von Menschen mit Tumoren oder schwersten Beeinträchtigungen und Behinderung im Bewegungsapparat, die zwar nach dem Besuch nicht komplett weg sind, wo aber eine Linderung eintritt. Einmal ist eine Ordensschwester aufgrund einer starken religiösen Erfahrung aus ihrem Rollstuhl aufgestanden und konnte den halben Kreuzweg gehen. Das ganze Jahr über begegnen mir Menschen, die mir erzählen, dass schwerste Beeinträchtigungen einfach weg waren. Die Psychosomatik spielt sicher eine Rolle: Wenn sie sehr lange ein chronisches Leiden haben, dann hat dies auch einen Einfluss auf ihre Psyche. Körper und Geist sind glücklicherweise nicht trennbar. In dem besonderen Ambiente dieses Pilgerorts mit der Gemeinschaft und der Spiritualität kann es zu einer Besserung wie bei einem Placebo-Effekt kommen. Dies soll diesen positiven Effekt aber keineswegs in seiner Relevanz minimieren. Diese Besserung ist allerdings nicht von Dauer. Das alles zählt nicht zu den Fällen, die wir als unerklärlich deklarieren würden.

Die beleuchtete Kathedrale hebt sich von dem tiefblauen Abendhimmel ab.
Bild: ©KNA

Die Rosenkranz-Basilika und die Basilika der unbefleckten Empfängnis an der berühmten Grotte in Lourdes. "Das ganze Jahr über begegnen mir Menschen, die mir erzählen, dass schwerste Beeinträchtigungen einfach weg waren," berichtet Chefarzt Cornel Sieber.

Frage: Haben Sie auch Kontakt zu den geheilten Personen?

Sieber: Das passiert insgesamt nur sehr selten; ich habe es nur einmal erlebt. Etwas Anderes ist der Kontakt zu einer eventuell später als unerklärt geheilt deklarierten Person.

Frage: Neben körperlichen Gebrechen ist auch die Demenz eine Krankheit, die als unheilbar gilt. Hat man in Lourdes von einem Fall gehört, dass sie geheilt wurde?

Sieber: Da hatten wir bis jetzt niemanden. Aber immer mehr Menschen werden von psychischen und psychiatrischen Erkrankungen betroffen und fühlen sich später nach einem Lourdes-Aufenthalt geheilt. Und mit der Zunahme der Lebenserwartung wird die unerklärte Genesung von einer Demenzerkrankung meiner Ansicht nach sicher mal kommen. Das war wohl auch einer der Gründe, weshalb man mich als Altersmediziner in dieses Gremium gewählt hat. Wenn so ein Fall von geheilter Demenz käme, wären wir erst einmal sehr stutzig. Die erste Reaktion wäre "Das kennen wir nicht" und danach würden wir die Literatur durchforsten, ob so etwas schon einmal auf der Welt beschrieben wurde. Außerdem müsste man in die vorangegangene Diagnostik der Person vor dem Lourdes-Besuch schauen und sie mindestens zwei, drei Jahre lang in gewissen Abständen nachuntersuchen lassen.

Frage: Was hat Sie an dieser Aufgabe für den Wallfahrtsort fasziniert?

Sieber: Da ist mein etwas ambivalentes Verhältnis zu dem Thema Wallfahrt. Ich bin "gut katholisch" aufgewachsen, war Ministrant und bin auch jetzt ein gläubiger Mensch und froh, katholisch zu sein. Es war mein Vater, der eine besondere Beziehung zu Wallfahrtsorten hatte und mit dem wir mehrmals in der Gnadenkapelle des Klosters Mariastein bei Basel waren. Als ich älter wurde, wurde ich den Wallfahrten gegenüber distanzierter, was innerhalb unserer Familie zu kontroversen Diskussionen führte. Vor einigen Jahren ist dann mein Vater gestorben. Im nahen zeitlichen Abstand dazu wurde ich einerseits Leiter einer Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Geriatrie in einem großen Katholischen Krankenhaus und andererseits kam die Lourdes-Anfrage. Ich hatte das Gefühl, dass mein Vater sich darüber sicher sehr gefreut hätte. Also habe ich nebst meiner Neugierde auch ihm zuliebe zugesagt.

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Video: © katholisch.de

Seit mehr als 20 Jahren gehört der deutsche Chirurg Rolf Theiß zum internationalen medizinischen Komitee, das die in Lourdes gemeldeten Heilungen prüft.

Frage: Waren Sie zuvor schon einmal in Lourdes und was ist Ihre persönliche Beziehung zu dem Wallfahrtsort?

Sieber: Ja, ich war als Jugendlicher einmal mit meiner Familie in Lourdes. Allerdings war das keine klassische Pilgerfahrt, sondern wir haben es im Rahmen eines Urlaubs in der Gegend besucht. Heute hat Lourdes für mich einerseits eine etwas touristische Note, aber auf der anderen Seite ist es ein Kraftort, der Wirkung auf die Gläubigen hat – auch auf mich. Wenn ich nun einmal im Jahr aus Nürnberg eineinhalb Tage brauche, um nach Lourdes zu fahren, ist schon der Weg dahin eine Art innere Vorbereitung auf den Wallfahrtsort. Und die Treffen mit dem Komitee sind für mich eine Tradition geworden, die mir gut tut und die eine Taktung in mein Leben bringt.

Frage: Es wird immer wieder von einem Graben zwischen Glaube und Wissenschaft gesprochen. Wie reagieren Ihre Kollegen darauf, dass Sie die Akten der Heilungen von Lourdes untersuchen?

Sieber: Dies weiß eigentlich kaum jemand – und das wird sich nun wohl etwas ändern (lacht). Aber nicht, weil ich etwas zu verbergen hätte. Schließlich steht mein Name auch auf der offiziellen Seite des medizinischen Komitees von Lourdes.

Frage: Aber in der Vita auf Ihrer Homepage geben Sie dieses medizinische Ehrenamt nicht an. Ist Ihnen das peinlich?

Sieber: Ich finde das überhaupt nicht peinlich, sondern eher, dass das einen höheren Stellenwert hat als zum Beispiel meine Mitgliedschaft in einer medizinischen Fachgesellschaft. Aber ich bin der Meinung, man sollte damit nicht so hausieren gehen. Es wissen bislang nur meine Vorgesetzten, der Provinzial und der Prior der Barmherzigen Brüder, und einige Chefärzte sowie natürlich meine Familie.

Frage: Wurden Sie persönlich durch diese Arbeit in Ihrem Wunderglauben bestärkt?

Sieber: Nein, in diesen vier Jahren nicht. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass es Dinge gibt, die wir nicht erklären können und die wir nie erklären werden können. Und das ist gut so. Es gibt einfach etwas, das ist größer als wir.

Von Agathe Lukassek