Auf den Spuren des Heiligen Kreuzes
Als die Römer um das Jahr 30 einen vermeintlich einfachen Wanderprediger kreuzigten, glaubten sie wohl kaum, was in der Folge passieren würde: Mit dem Christentum entstand die größte der Weltreligionen – und ihr wichtigstes Erkennungszeichen wurde eben jenes grausame römische Folterinstrument, an dem Jesus starb. Heute ist das Kreuz als Symbol aus der Gesellschaft nicht mehr wegzudenken: Millionen Menschen weltweit tragen es als Anhänger am Hals, es schmückt die Wände in ihren Häusern, krönt Kirchtürme, ziert als Symbol die Flaggen zahlreicher Länder und die Nachrufe für Verstorbene in den Zeitungen. Bei der immensen Bedeutung dieses Zeichens stellt sich die Frage: Was ist mit dem "wahren" Kreuz Christi passiert?
Da sich in der Heiligen Schrift keinerlei Hinweise auf den Verbleib des Kreuzes finden, kann nur spekuliert werden, was unmittelbar nach dem Tod Jesu geschehen ist. Denkbar ist, dass seine Anhänger – zumal nach der Auferstehung – alles daran setzten, Überbleibsel der Passion in ihren Besitz zu bringen und zur Verehrung aufzubewahren. Hierunter fällt nicht nur das Kreuz, sondern beispielsweise auch die Dornenkrone, die Kreuzigungsnägel oder das Leichentuch Jesu. Vorstellbar wäre genauso, dass die Römer oder die Juden eine solche Verehrung bewusst verhindern wollten und das Kreuz und alle weiteren Überbleibsel verschwinden ließen. Wie dem auch sei: 300 Jahre lang galten sie als verschollen.
Gott gab den Auftrag zur Kreuzfindung
Erst die heilige Helena, Mutter des römischen Kaisers Konstantin I. (306-337), sah sich berufen, das Heilige Kreuz wiederzufinden. Ihr Sohn hatte im Jahr 313 mit dem sogenannten "Mailänder Toleranzedikt" den Christen die freie Religionsausübung garantiert. Helena hatte sich schon im Jahr zuvor taufen lassen. Nachdem nun für die Christen auch Pilgerfahrten ins Heilige Land – zu den Wirkstätten Jesu – möglich geworden waren, entschloss sie sich, um das Jahr 325 nach Palästina zu reisen. Der Kirchenvater Ambrosius von Mailand (339-397) berichtet, dass Gott selbst der bereits etwa 80-jährigen Kaisermutter diese Wallfahrt im Traum aufgetragen hatte.
Laut der Überlieferung ließ Helena nach Hinweisen des Jerusalemer Bischofs unter einem römischen Tempel Grabungsarbeiten durchführen. Dieser Venus-Tempel befand sich auf dem Berg Golgota, der Kreuzigungsstätte Christi. In einem unterirdischen Hohlraum konnten bei den Grabungen dann tatsächlich drei gut erhaltene Kreuze gefunden werden. Da die Bibel berichtet, dass zusammen mit Jesus zwei Verbrecher gekreuzigt worden waren, sah sich Helena nun am Ziel. Doch welches der drei Kreuze war Jesus zuzuordnen? Laut Ambrosius konnte das wahre Kreuz Christi durch den sogenannten "Titulus crucis" identifiziert werden – die Holztafel mit der "INRI"-Aufschrift "Jesus von Nazaret, König der Juden", die der Statthalter Pontius Pilatus am Kreuz hatte anbringen lassen (Joh 19,19). Mittelalterliche Legenden hingegen sprechen von einer Totenerweckung durch Berührung mit dem Heiligen Kreuz.
Pilgerströme zum Heiligen Kreuz
Neben dem Kreuz fand Helena auch die Nägel, die Dornenkrone und das Felsengrab, in dem Jesus bestattet worden war. Noch im Jahr der Auffindung ließ Kaiser Konstantin an der Stelle der Kreuzigung und Bestattung Jesu die Grabeskirche errichten. Das Heilige Kreuz selbst wurde auf Weisung Helenas zerteilt. Einen Teil der Kreuzreliquie nahm die Kaisermutter mit nach Rom, wo sie fortan in der kaiserlichen Palastkapelle – heute die Kirche Santa Croce in Gerusalemme – verehrt wurden. Ein anderer Teil ging zu ihrem Sohn nach Konstantinopel. Der größere Rest verblieb in Jerusalem, wo die Reliquie fast 300 Jahre lang ununterbrochen Pilgerströme anzog. Jährlich am 14. September wurde das Kreuz in der Grabeskirche dem Volk hocherhoben zur liturgischen Verehrung gezeigt. Hier liegen die Ursprünge des Festes Kreuzerhöhung, das die Kirche bis heute feiert.
Im Jahr 614 gelangte die Jerusalemer Kreuzreliquie in die Hände persischer Angreifer, nur um 628 vom byzantinischen Kaiser Herakleios zurückerobert und 630 wieder in die Heilige Stadt verbracht zu werden. Auch nachdem Jerusalem knapp zehn Jahre später unter muslimische Herrschaft geraten war, riss die Tradition der Kreuzverehrung nicht vollständig ab. Gleichwohl gingen in dieser Zeit zahlreiche Teile der Kreuzreliquie verloren. Im Jahr 1099 eroberten die Kreuzritter die Heilige Stadt für die Christen zurück und entdeckten den verbliebenen Rest des Kreuzes in einer Silberkiste in einer abgeschiedenen Ecke der Grabeskirche. Fortan wurde die Reliquie bei allen großen Schlachten der Kreuzritter mitgeführt.
Das christliche Königreich Jerusalem erlitt 1187 in der Schlacht bei Hattin am See Genezareth eine schwere Niederlage, als dessen Folge auch die Heilige Stadt wieder verloren ging. Das Heilige Kreuz – der Jerusalemer Teil – geriet in die Hände der muslimischen Ayyubiden und ist seither verschollen. Im Vierten Kreuzzug eroberten die Kreuzfahrer 1204 Konstantinopel. Das dort seit Helenas Zeiten befindliche Kreuzfragment wurde in hunderte kleine Splitter zerteilt, die die christlichen Eroberer nach Europa schafften. Dort wurden sie zahlreichen Kirchen und Klöstern gestiftet, die sie wiederum in wertvollen Reliquiaren, den sogenannten Staurotheken, aufbewahrten. Um diesen Reliquienkult entstanden etliche Heilig-Kreuz-Kirchen in ganz Europa.
Kreuzfragmente in aller Welt
Noch heute finden sich zahlreiche Kreuzpartikel in aller Welt. Bekannte Beispiele im deutschen Sprachraum sind etwa die Limburger Staurothek, die Kreuzfragmente innerhalb des Hildesheimer Bernwardskreuzes oder die Reliquie in der österreichischen Zisterzienserabtei Stift Heiligenkreuz im Wienerwald. Im Petersdom in Rom wird ein größeres Holzstück verwahrt, zudem befindet sich – neben weiteren Passionsreliquien – ein Teil des INRI-Titulus in der Kirche Santa Croce in Gerusalemme. Ein Kreuzpartikel wurde außerdem im Reichskreuz aufbewahrt und war somit – wie auch die "Heilige Lanze" – Teil der Reichskleinodien, der Herrschaftsinsignien des Heiligen Römischen Reiches. Dieser Partikel ist heute in der Schatzkammer der Wiener Hofburg ausgestellt. Trotz der weltweiten Fülle an Kreuzfragmenten: Die Partikel, die als potenziell echt angesehen werden, würden nach Schätzungen zusammen genommen nur etwa zehn Prozent des Volumens des Kreuzes Christi ausmachen.
Bis zur Reform des liturgischen Kalenders im Jahr 1960 feierte die Kirche ein eigenes Fest der "Kreuzauffindung" am 3. Mai. Heute wird dieser Auffindung durch die Kaiserin Helena am Fest der Kreuzerhöhung am 14. September mitgedacht. Am selben Tag feiern dem Heiligen Kreuz geweihte Kirchen ihr Patrozinium. Liturgisch bedeutsam wird das Symbol des Kreuzes jährlich am Karfreitag: Bei der sogenannten Kreuzverehrung wird ein Kruzifix den Mitfeiernden hoch erhoben gezeigt ("erhöht"), und der Priester lädt alle mit einem gesungenen Ruf zur Verehrung ein: "Seht das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen." Die Gläubigen antworten: "Kommt, lasset uns anbeten!" Anschließend treten alle Mitfeiernden prozessionsweise zum Kreuz und verehren es durch eine anbetende Kniebeuge oder einen Kuss. Auch wenn manchem Außenstehenden eine solche Ehrerbietung gegenüber einem Folterinstrument suspekt vorkommen mag, ist für Christen eines klar: Ohne den Tod Christi am Kreuz hätte es keine Auferstehung gegeben und somit keine Erlösung der Menschheit – im Kreuz liegt das Heil.