Missbrauch in Polen: Vertrauen in Klerus sinkt
"Kler" – vier Buchstaben, die in Polen seit Wochen bewegen. Das Thema Missbrauch durch Geistliche und Ordensleute wird so stark und kontrovers diskutiert wie noch nie. Grund ist "Kler" (polnisch für Kleriker), einer der meistgesehenen Kinofilme der polnischen Geschichte. Der Plot scheint zuerst ein Porträt dreier befreundeter Priester zu sein, von denen jeder ein sündhaftes bis verbrecherisches Laster hat: eiskaltes Machtstreben, Probleme mit dem Zölibat, Pädophilie – allen gemeinsam ist ihre Korrumpierbarkeit. Im Laufe des Films spitzt sich alles auf einen Aspekt zu: körperliche Misshandlungen und sexueller Missbrauch von Kindern sowie die Vertuschung der Fälle durch die Kirche.
So viele Wellen der Film "Kler" auch schlägt: Der niederländische Journalist Ekke Overbeek sagt, derzeit gebe es in Polen "keine Chance auf Aufklärung und Bekämpfung" der Missbrauchsfälle der Kirche des Landes. Overbeek hatte den Betroffenen im Jahr 2013 eine Stimme gegeben in seinem Buch "Fürchtet euch – Pädophilie-Opfer der Kirche in Polen sprechen". Die aktuelle Regierung fuße auf der Autorität der Kirche und brauche diese, sagte er noch im September der Nachrichtenseite Onet.pl. Während Kirchenvertreter beschwichtigend sagen, dass "Kler" ein fiktionaler Spielfilm sei, weist der Faktencheck von OKO.press darauf hin, dass sich mehrere Szenen an den Aussagen der Missbrauchsopfer in Overbeeks Buch orientieren.
Seit zehn Jahren berichten Medien über Missbrauchsfälle
Ähnlich wie in den USA, Lateinamerika und Westeuropa ist auch in Polen das Thema nicht neu. Im Jahr 2008 meldete der Dominikaner Marcin Mogielski – mit der Zustimmung seines Ordensoberen – einen Verdachtsfall auf Kindesmissbrauch durch einen Stettiner Priester an die Medien. Zuvor hatte Pater Marcin jahrelang vergeblich versucht, die in der Erzdiözese tätigen Bischöfe zu einer Lösung des Problems zu bewegen. Auf die polnischen Medien war Verlass. "Anders als etwa in Italien greifen polnische Journalisten das Thema hin und wieder auf und informieren die Gesellschaft über solche Vorkommnisse", sagt die liberale Sejm-Abgeordnete Joanna Scheuring-Wielgus.
Im Jahr 2010 geriet das "Sondererziehungszentrum" der Borromäusschwestern von Zabrze in den medialen Fokus. Die Direktorin des Heims wurde wegen Anwendung körperlicher und psychischer Gewalt sowie der Anstiftung zu pädophilen Handlungen zu zwei Jahren Haft verurteilt. Das Erziehungsheim hatte sie seit 1994 geleitet. Wegen ihres schlechten Gesundheitszustands wurde der Haftantritt verschoben. Die Ordensfrau kam schließlich im Jahr 2014 ins Gefängnis – einen Monat nach einer aufsehenerregenden Zeitungsreportage über die Misshandlungen durch die Schwestern und im Auftrag der Schwestern. Nach dem Vorfall meldeten sich Opfer weiterer Schwestern des Heims zu Wort – Frauen, die befürchteten, dass ihr Leid nicht gesehen wird, weil die Medien lieber über sexuelle Gewalt an Jungen berichten. Zu dem Fall des Erziehungsheims veröffentlichte die Journalistin Justyna Kopinska 2015 ein ganzes Buch.
Orden ficht Entschädigungsurteil für Missbrauchsopfer an
Und die Reaktion der Kirche? 2012 hatte die Polnische Bischofskonferenz Normen zum Umgang mit Missbrauchstätern erlassen. Seit 2013 ist der Jesuit Adam Żak Missbrauchsbeauftragter der Bischöfe, seit 2014 leitet er das "Zentrum für Kinderschutz". Bereits 2014 hatte die Einrichtung durch eine Datenerhebung bei staatlichen Gerichten mindestens 19 Priester ausgemacht, die in einem Zeitraum von drei Jahren wegen Missbrauchs verurteilt worden waren. 2017 gab es einen ersten Gebetstag für Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester. Anfang Oktober wurde ein Orden zu der Rekordentschädigung von einer Million Złoty (233.000 Euro) und der Zahlung einer lebenslangen Monatsrente an eine junge Frau verurteilt, die als 13-Jährige von einem Pater mehrfach vergewaltigt wurde. Die Gesellschaft Christi für Emigrantenseelsorge kündigte an, gegen das Urteil vor dem Obersten Gerichtshof Beschwerde einzulegen.
Die Bischöfe betonen, dass bereits seit vielen Jahren Präventionskonzepte bestünden und der Umgang mit Beschuldigten sowohl im Einklang mit der kirchlichen wie der staatlichen Gesetzgebung geregelt sei. Die Position der polnischen Kirche sei unverändert: "Null Toleranz für die Sünde und das Verbrechen der Pädophilie in der Kirche und in der Gesellschaft", heißt es in einer Erklärung vom September. Für Ende November ist ein Dokument angekündigt, das die verschiedenen Aktivitäten zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt darstellt. Auch wolle man statistische Daten über Missbrauch sammeln.
Auffällig oft sprechen die polnischen Bischöfe und andere Kirchenvertreter allerdings zunächst von "Sünde" und erst danach von der "Straftat". Und meistens wird das Thema sexuelle Gewalt unter dem Schlagwort "Pädophilie" diskutiert. Um Differenzierung bemühen sich längst nicht alle Kleriker – oder Medien. Eine Ausnahme stellt der Missbrauchsbeauftrage Żak dar: "Nicht nur Pädophile – also Menschen mit einer gestörten sexuellen Präferenz – missbrauchen sexuell, sondern vor allem psychosexuell unreife Menschen", betonte der Jesuitenpater jüngst in einem Interview.
In der Gesellschaft des katholischen Landes regt sich Widerstand. Im Sommer hängten Aktivisten der Initiative "Baby Shoes Remember" Kinderschuhe an die Zäune von Kirchen- und Kuriengebäuden, um an die Opfer sexueller Gewalt zu erinnern. Es kam in mehreren Städten zu Demonstrationen von Missbrauchsopfern, bei denen Plakate mit Sprüchen wie "Die Kirche deckt die Pädophilen" oder "Hände weg von Kindern" hochgehalten wurden. Eine Online-Karte der Stiftung "Fürchtet euch nicht" zeigt Orte, an denen Geistliche sich an Kindern vergangen haben (sollen). Die Seite wurde innerhalb von zwei Tagen mehr als eine Million Mal angesehen und führte zur Meldung von 140 weiteren Opfern, berichtete die Abgeordnete Scheuring-Wielgus, die die Opfer-Organisation unterstützt.
Die Kirche reagiert teilweise allergisch auf Demonstrationen und auf "Kler". Er fürchte, dass der Film die Polen spalten könne, sagte der Primas Polens, Erzbischof Wojciech Polak der katholischen Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny" im Oktober. "Es werden sich Gruppen finden, die laut protestieren und Gruppen, die den Film benutzen, um Antiklerikalismus zu verbreiten." Tatsächlich demonstrierten in den vergangenen Wochen die Opfervertreter von "Fürchtet euch nicht" gemeinsam mit atheistischen Gruppen. "Die Angehörigen der Stiftung haben keine so glaubwürdige Reaktion der Kirche erfahren, um zu glauben, dass sie auch auf dieser Seite Verbündete haben", kommentierte das Zbigniew Nosowski, Chefredakteur der katholischen Monatszeitschrift "Więź".