Striet antwortet Kasper: Strukturreform und Gottesfrage nicht trennen
Es sei eine "verhängnisvolle Selbsttäuschung, zu meinen, mit strukturellen Reformen allein wieder neue Glaubensfreude wecken zu können", sagt Kardinal Walter Kasper mit Blick auf den geplanten "synodalen Weg". Laut Herder Korrespondenz war Kasper auch maßgeblich am Papst-Brief Ende Juni beteiligt, mit dem sich Franziskus an die Gläubigen in Deutschland gewandt hatte. Kasper erläutert nun noch einmal: Ohne "Erneuerung aus dem Glauben" gingen "alle noch so gut gemeinten strukturellen Reformen ins Leere".
Das ist sicherlich richtig, und ganz neu sind solche Aussagen von Kardinal Kasper auch nicht: Bereits nach dem so genannten "Theologen-Memorandum" im Jahr 2011 hatte er sich tief enttäuscht gezeigt, seien hier doch die falschen Fragen adressiert worden. Auch damals ging es um demokratischere Strukturen, verheiratete Priester und Frauen im kirchlichen Amt. Stattdessen hätte die Gottesfrage neu gestellt werden müssen, sagte Kasper. Daraus darf man folgern, dass dem Kardinal andere Fragen nur nachgeordneter Natur oder nicht so wichtig erschienen sind.
Der Begriff der Strukturreform fällt zwar gegenwärtig immer wieder, wenn es um den für Deutschland geplanten synodalen Prozess geht. Und zwar von unterschiedlichen Protagonisten auf dem Feld derer, die über die Zukunft der Kirche nachdenken. Die einen plädieren für Reformen, die anderen hingegen sehen in Strukturreformen nur den Ausdruck dessen, dass das eigentliche Problem gar nicht erkannt sei. Letztere attestieren Deutschland eine Glaubenskrise, und überhaupt ließe sich ohnehin nichts ändern, weil das, was gilt, in den wesentlichen Punkten göttlichen Rechts sei.
Allerdings geht die augenscheinlich vorgenommene Trennung zwischen Strukturreform und Gottesfrage schlicht an der Sache vorbei. Fast könnte man auf die Idee kommen, es handele sich um eine Strategie: Wer Strukturreformen fordert, läuft schnell Gefahr, als theologisch oberflächlich dargestellt zu werden, oberflächlich wie der Zeitgeist. Als ginge es den Reformbefürwortern darum, einer Ruine einen neuen Anstrich zu verpassen.
Kardinal Kasper hat Recht: Es geht um die Gottesfrage und damit um den Kern dessen, was den Glauben innerlich bestimmen soll. Jedoch kann die Gottesfrage nicht ohne die Frage nach dem Menschen gestellt werden. Wenn diesem die Freiheit "das Höchste" ist, wie der Philosoph Friedrich Wilhelm Schelling akzentuiert, dann ist die Frage nach Gott mit dieser Freiheitssehnsucht zusammenzubringen. Dass in diesem Freiheitsdenken dem nackten Individualismus oder einer Ellenbogengesellschaft das Wort geredet worden sei, kann nur behaupten, wer die entsprechenden Texte aus dieser Zeit nicht kennt. Wie kein anderer war es übrigens Schelling, der nochmals entschieden den freien Gott als den Gott denken wollte, der der Sehnsucht des Menschen nach einer Sinnerfüllung entspricht. Freiheitssehnsucht und Gottesglaube lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Walter Kasper hat übrigens eine bis heute sehr lesenswerte Arbeit über Schelling vorgelegt.
Keine bloßen Strukturfragen
Über Freiheit theologisch nachzudenken, wird indessen aber erst dann interessant, wenn dies konkret geschieht und damit nach praktischen Konsequenzen gefragt wird. Fragen der Geschlechtergerechtigkeit und Fragen von sexueller Orientierung sind deshalb keine bloßen Strukturfragen, sondern greifen in das Zentrum des Gottesglaubens ein. Zugleich darf aber die Gottesfrage nicht ohne Konsequenzen für die Struktur der Kirche bleiben, an der schließlich sicht- und erfahrbar werden soll, auf welchen Gott diese Kirche ihre Hoffnung setzt.
Dann aber muss sich die Kirche zu der Frage verhalten, ob Freiheit – gedacht als Selbstbestimmungsrecht – nun sein soll oder nicht. In der antiken Welt gab es die Vorstellung einer gleichen Freiheit aller nicht, und es hat bis in die Neuzeit gedauert, bis sich diese Idee normativ durchsetzen konnte. Demokratische Formen der politischen Entscheidungsfindung, die möglichst viele an dieser beteiligen, konnten ebenfalls erst dann ausgeprägt werden. Und auch löste man sich von der Vorstellung, dass das biologische Geschlecht darüber entscheiden dürfe, wie Menschen zu leben haben.
Ideengeschichtlich haben wir es hier mit der Unterscheidung von Natur und Kultur zu tun. Was als Kultur erkannt ist, kann als solche reflektiert und verändert werden. So werden Lernprozesse nicht nur legitim, sondern notwendiger Bestandteil einer verantworteten Haltung, die Macht über Menschen nicht nur hat, sondern beansprucht. Eine Tradition zu identifizieren, ist in dieser Hinsicht eine Kulturleistung. Der anstehende Lernprozess innerhalb der Kirche könnte sich vollziehen, indem mit Blick auf die Tradition des Weiheamtes nicht mehr im Vordergrund stünde, dass Jesus vermeintlich nur Menschen desselben Geschlechts berufen habe, sondern, dass der Gott, für den auch Jesus eingetreten ist, hoffentlich ein Gott der Gerechtigkeit ist.
Bis heute hat die katholische Kirche erhebliche Schwierigkeit damit, sich zur Freiheitsmoderne in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Sie konstruiert ihre Identität über eine Tradition, die sie ewig nennt und in den strittigen Punkten auf Gott selbst zurückführt. Mit dem vermeintlichen Auftrag, an dieser Identitäts- und Traditionskonstruktion festzuhalten, werden Strukturreformen abgewehrt. Dabei ist leicht zu sehen, wie diese Tradition selbst im Kontext des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Die Gestalt der katholischen Kirche gleicht bis heute einer absoluten Monarchie, und in der gibt es nur sehr begrenzt Platz für Freiheit. Darüber darf auch eine Rhetorik wie die vom "pilgernden Gottesvolk" oder die vom "sensus fidelium" nicht hinwegtäuschen. Der gemeinsame Glaube kommt dann schnell an ein Ende, wenn er nicht lehramtskonform ist. Oder wenn Menschen darauf bestehen, nicht nur im Alltag ihre Freiheit leben zu wollen, sondern auch in Glaubens- und Kirchenfragen.
Wo Selbstbestimmung der Gradmesser ist, wird es unruhig bleiben
Die globalen Kontexte, in denen sich die katholischen Milieus bewegen, mögen sehr unterschiedlich sein. Dort aber, wo die Idee der Selbstbestimmung zum normativen Gradmesser in Entscheidungsfindungsprozessen geworden ist – und: wo das Bewusstsein vorherrscht, dass Regeln der Entscheidungsfindung und Organisationszusammenhänge nicht vom Himmel gefallen sind, wird es unruhig bleiben, wenn die Verhältnisse als repressiv und ungenügend erlebt werden. Dies gilt auch bezogen auf die Kirche.
Den Kern der Krise, die die katholische Kirche seit geraumer Zeit durchmacht, bildet tatsächlich die Gottesfrage: Sage mir, an welchen Gott Du glaubst, und ich sage Dir, wie Du Dir Deine Kirche vorstellst. Unvermeidlich gehen menschliche Selbstverständigungsideen in den Gottglauben ein. Leicht nachweislich ist dies auch bei denen, die eben dies auszuschließen versuchen. Innerkirchlich wird man sich der Frage, wie der Gott, der aus der Kirche sichtbar werden soll, es wohl mit Freiheit und Würde hält, nicht länger verweigern können, wenn man sich gesellschaftlich und politisch nicht ins Abseits stellen will. Aber ein positiver Bescheid hat dann auch innerkirchliche Konsequenzen. Und diese müssen gezogen werden, will man nicht doch wieder unglaubwürdig werden.