Kasper an Striet: Selbstbestimmung ist keine Alternative zur Tradition
Mit Interesse habe ich die Kritik von Magnus Striet zur Kenntnis genommen. Auf seine Ausführungen über mein Theologieverständnis brauche ich nicht eingehen. Sie gehen an dem, was ich seit Jahrzehnten veröffentlicht habe, vorbei. Über das Verhältnis von Theonomie und Autonomie und darüber, dass man beide nicht gegeneinander ausspielen kann, habe ich mich hinreichend geäußert. Für den Einsatz für Reformen habe ich als Theologe wie als Bischof und Kardinal bis in die jüngste Zeit von anderer Seite so viel Prügel bezogen, dass mir Vorhaltungen, Reformen seien für mich sekundär und nicht so wichtig, reichlich fremd vorkommen. Jedenfalls bin ich nie auf die Idee gekommen, Evangelisierung komme ohne innere Umkehr und ohne Reformen aus, deren die Kirche zu allen Zeiten bedarf.
Es ist richtig, dass Papst Franziskus mich um ein Gespräch über die Situation in Deutschland gebeten hat. Von den Strukturreformen, die beim "synodalen Weg" zur Diskussion stehen, war dabei ebenso wenig die Rede wie in dem nachfolgenden Brief des Papstes. Ich bin weder Ghostwriter dieses Briefes noch schwinge ich mich zu dessen Chefinterpret auf. Die Grundanliegen des Briefes sind ohnedies für jeden, der verstehen will, klar verständlich. Stoppschilder habe ich darin nicht gefunden, wohl aber die Einsicht, die Vertrauenskrise reiche so tief, dass sie mit Reformen allein nicht aufgearbeitet werden kann.
Striet baut für die zweifellos notwendige Diskussion die Alternative auf: Kirchliche Identität aufgrund der Bindung an die Tradition oder der neuzeitliche Weg der Selbstbestimmung. Ein Blick auf John Henry Newman, den großen Wegbereiter heutiger Theologie, den Papst Benedikt seliggesprochen und den Papst Franziskus zu meiner großen Freude demnächst heiligsprechen wird, zeigt, dass diese Alternative so nicht besteht. Kaum einer setzt so wie Newman auf das persönliche Gewissen, und kaum einer hat so gut und so konkret wie er erklärt, was Tradition ist. Jesus hat seinen Jüngern ja nicht nur einzelne Worte hinterlassen und Ämter eingesetzt, die dafür sorgen sollen, dass diese Worte getreu weitergeben werden. Jesus hat seinen Jüngern, d.h. allen Jüngern den Heiligen Geist versprochen und gesandt, damit er sie in allen Jahrhunderten an Jesu Botschaft erinnert und im Gespräch mit der Kirche tiefer in sie einführt (vgl. Dei Verbum, 8). Das ist Tradition, und der synodale Prozess kann sich gar nicht anders denn als ein Glied innerhalb des so verstandenen Traditionsprozesses verstehen. Wer die Tradition freilich als bloßes Konstrukt versteht, hat davon wenig oder nichts verstanden.
Was bedeutet "Selbstbestimmung" im Glauben?
Damit komme ich zur Selbstbestimmung. Niemand bestreitet, dass sie fundamental ist und dies nicht erst in der Neuzeit. Aber kann denn Selbststimmung im Glauben – man denke an Abraham, den Vater des Glaubens – etwas anderes sein als in Freiheit sich von Gott bestimmen lassen, um sich dann mit Gott, zusammen mit allen anderen Glaubenden auf den Weg zu machen, ein Weg, der oft durch dunkle Nacht hindurch zum Licht führt? Hat nicht Jesus selbst im Getsemani-Garten und in seinem Verlassenheitsschrei am Kreuz genau dies stellvertretend und exemplarisch für uns getan?
Man wird einwenden, das alles sei weit weg von den konkreten Gender-Fragen, auf die Striet nachdrücklich hinweist und um die es in dem synodalen Prozess unter anderem geht. Dem ist freilich nicht so. Interessanterweise verweist Striet mehrfach auf Schelling. Der hat in seiner Naturphilosophie gezeigt, dass menschliche Selbstbestimmung in die Natur inkarnierte Freiheit ist. Die Natur ist Ermöglichungsraum, ja Symbol dieser Freiheit. Das bedeutet, dass das biologische Geschlecht (sex) das kulturelle und soziale Geschlecht (gender) nicht einfachhin determiniert sondern eine gewisse Plastizität besitzt (Helmut Plessner) und Raum für kultur- und sozialgeschichtliche Entfaltung eröffnet. Andererseits setzt die Natur der Selbstbestimmung aber auch natürliche Grenzen, am deutlichsten mit Geburt und Tod, die der Selbstbestimmung entzogen sind.
So hat Gott in der Schöpfung je schon Raum und Horizont menschlicher Freiheit vorherbestimmt. Als Christen sollen wir diese Bestimmung dankbar als Schöpfungsgabe annehmen. Wir dürfen und sollen sie konkret ausgestalten; uns davon emanzipieren können wir nicht. Sie als gleichgültig bezeichnen, wäre dem biblischen Menschenbild zutiefst zuwider und liefe auf einen (cartesianischen oder gar gnostischen) Dualismus einer utopischen, d.h. ortlosen, nicht in die Natur inkarnierten, allen natürlichen Daseinsbedingungen enthobenen Freiheit hinaus.
Was das für die angedeuteten Fragen konkret bedeutet, bleibt selbstverständlich zu diskutieren. Solche Diskussion muss sein. Doch der Verweis auf die Selbstbestimmung allein hilft in dieser Diskussion offensichtlich nicht weiter. Tertullian: Caro cardo salutis. Das Fleisch ist der Angelhaken des Heils.