Der lange Schatten des Ersten Vatikanischen Konzils
Die derzeitigen Diskussionen um die Folgen von sexualisierter Gewalt innerhalb der Kirche rütteln gewaltig an den Fundamenten derselben. Strukturreformen, Diskurse um die Frage nach dem geistlichen Amt und eine grundsätzliche Infragestellung der Machtverteilung stehen auf dem Tableau des "synodalen Wegs", der am ersten Adventssonntag begonnen hat. Es ist eine spannende Fügung, dass gerade in die Tage, in denen dieser Weg seinen Anfang nimmt, der 150. Jahrestag der Eröffnung des Ersten Vatikanischen Konzils fällt. Jener konziliaren Versammlung, bei der eine so starke Konzentration auf den römischen Papst erfolgte und bei der sich eine Ekklesiologie Bahn gebrochen hat, deren Auswirkungen sich bis heute vielfach zum Problem ausgewachsen haben. Unfehlbarkeit, Gehorsam, Autorität und Dogma sind die Leitbegriffe, die häufig fallen, wenn es um das Erste Vatikanum geht. War das Konzil ein nachdrückliches Jahrhundertereignis, an dessen Früchte die Kirche bis heute zu knabbern hat?
Peter Neuner, der lange Jahre als Professor für Dogmatik an der Universität München tätig war, hat sich in seinem neuen Buch mit diesen Fragen auseinandergesetzt und zeichnet das Bild eines Konzils, dessen Schatten bis in die heutige Zeit hineinreichen. Freilich müsste man meinen, die Kirche sei heutzutage hauptsächlich von den Beschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils bestimmt, das in den 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Türen für die Welt öffnete. Der "Aggiornamento"-Gedanke des heiligen Papstes Johannes XXIII. ist in die Grammatik dieses Konzils tief eingeschrieben. Doch die Diagnose, die Peter Neuner stellt, ist eine andere: "Wie das Konzil die Kirche noch heute blockiert". Und Neuner meint damit das Erste Vatikanische Konzil.
Der lange Schatten des Ersten Vatikanums reicht bis in das Pontifikat von Papst Franziskus hinein, so stellt Neuner fest. Freilich hat Franziskus bereits im Vorkonklave sehr stark die Verengung der Kirche auf ihre Anliegen kritisiert; er sprach davon, dass sich die Kirche in einem "theologischen Narzissmus" selbst überhöhe. Vor allem in seinem programmatischen Apostolischen Schreiben "Evangelii gaudium" vom November 2013 hat Franziskus diese Linie noch einmal sehr nachdrücklich vertieft und mit zahlreichen Beispielen anschaulich beschrieben. Eine verbeulte Kirche sei ihm lieber, als eine Kirche, die ständig um sich selbst und die eigenen Anliegen kreist. Den allzu strengen Zentralismus, der die Kirche allein von Rom aus bestimmt sieht, versucht Franziskus aufzubrechen, indem er den Ortskirchen und den Bischofssynoden größere Kompetenzen zuschreibt. Zahlreiche andere Ansätze von Franziskus wären anzuführen, die in die gleiche Richtung, und damit auf eine sehr gründliche Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils, verweisen. Aber bei all dem ist vor allem eines zu beobachten: Franziskus eckt mit seinen Veränderungen an – und zwar bei denen, die sich an die alte Ordnung klammern und mit dem Franziskus-Stil nichts anzufangen wissen.
Dass hierbei teilweise eine bloße Weiterführung einer Ekklesiologie im Hintergrund steht, die auf dem Ersten Vatikanischen Konzil fußt, sieht Neuner vor allem darin begründet, dass die Päpste bis einschließlich Benedikt XVI. diese ekklesiologischen Leitlinien selbst reproduzierten. So erkennt Neuner besonders bei Benedikt XVI. die genaue Entgegensetzung zu dem, was für Franziskus so entscheidend ist: "Dass in seinem (Benedikts, Anm. d. Red.) Denken der Universalkirche höheres Gewicht zukommt als den Ortskirchen, war nicht nur durch seine universalkirchliche Aufgabe bedingt, sondern es war theologisch begründet." Neuner verweist hier auf die Kontroverse zwischen den Kardinälen Kasper und Ratzinger, die sich um das Problem der Vorrangstellung der Universal- vor den Ortskirchen drehte. Ratzinger positionierte sich klar, dass der Universalkirche eine "ontologische und zeitliche Vorgängigkeit zukomme", so heißt es in einer Erklärung der Glaubenskongregation aus dem Jahr 1992. Damit band sich Ratzinger sehr eng an die Sicht der Kirche, wie sie auf dem Ersten Vatikanum bestimmend war. Die Konsequenz hieraus schlug sich in einer starken Rombindung der Universalkirche nieder unter gleichzeitiger Vernachlässigung der Ortskirchen.
Franziskus dreht den Spieß um
Als Beispiel dafür kann die Übersetzung von liturgischen Texten dienen, die seit der Instruktion "Liturgicam authenticam" im Jahr 2001 (also noch unter Johannes Paul II.) von Rom gebilligt werden musste. Die Folgen waren teils verheerend, da eine wortgetreue Übersetzung des lateinischen Originaltextes eben nicht gleichzeitig mit einer guten Verständlichkeit in der Landessprache einhergeht. Besonders in Deutschland war dies an der Neuausgabe des Rituales für Begräbnisfeiern deutlich geworden, das kurz nach seiner Einführung wieder zurückgezogen wurde. Der Vorrang der Universal- vor der Ortskirche wurde hier sehr deutlich und es ist kaum verwunderlich, dass Franziskus den Spieß umgedreht hat: In "Magnum principium" schreibt er den örtlichen Bischofskonferenzen mehr Verantwortung in der Übersetzung der liturgischen Texte zu. Franziskus wertet die Teilkirchen auf und bindet sich gleichzeitig an die Vorgaben des Zweiten Vatikanischen Konzils rück.
Als Weiterführung des Ersten Vatikanischen Konzils sieht Neuner auch die Wiederzulassung der tridentinischen Messfeier, die Benedikt XVI. im Jahr 2007 erließ. Was auf Wunsch der Pius-Bruderschaft erfolgte, schlug hohe Wellen, da dadurch vor allem das in Gefahr schien, was sich die Konzilsväter auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil mühevoll errungen hatten. Besonders die Aufhebung der Exkommunikation von vier Bischöfen der Pius-Bruderschaft, die ohne Zustimmung des römischen Papstes geweiht wurden, schlug in dieselbe Kerbe. Peter Neuner hält fest: "Innerkirchlich wirkte die Aufhebung der Exkommunikation deshalb wie ein Schock, weil sich die Betroffenen nicht zum Konzil bekannt hatten. Es stellte sich die Frage, ob dessen Entscheidungen noch unverbrüchlich und für alle Katholiken gelten." Das Pontifikat von Benedikt XVI. stärkt jedenfalls die These Neuners, dass der lange Schatten des Ersten Vatikanums die Geschicke der Kirche bis heute begleite. Und tatsächlich stellt sich die Frage, warum die "Hermeneutik der Reform", die Benedikt selbst heraufbeschworen hatte, die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils so derart häufig äußerst stiefmütterlich behandelte.
Diese Rückbesinnung auf das Erste Vatikanum ist nicht allein Benedikt XVI. zuzuschreiben, sie setzte bereits im Pontifikat von Johannes Paul II. an. Paradigmatisch hierfür sieht Neuner die Einführung des neuen Codex Iuris Canonici (CIC) im Jahr 1983. Hierbei merkt Neuner an, dass der Codex die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanums nur sehr marginal rezipiere, während ein Großteil der Gesetztexte noch immer mit dem Geruch des Ersten Vatikanischen Konzils behaftet sei. Vor allem bei die "Festschreibung der päpstlichen Vollmacht im CIC von 1983 hat in der kirchenrechtlichen Diskussion bis zu der These geführt, dass die Aussagen des Zweiten Vatikanums ausgehend vom Jurisdiktionsprimat interpretiert werden müssen.“ Dahingehend attestiert Neuner dem Codex, die Dogmen des Ersten Vatikanums unverändert und eben nicht vom Standpunkt des Zweiten Vatikaums aus interpretiert übernommen zu haben.
Auch die Auseinandersetzung mit der Theologie der Befreiung, die mit harten Verurteilungen seitens der Glaubenskongregation endete, lassen sich gemäß Neuner als Rezeption des Ersten Vatikanischen Konzils lesen. Hier offenbarte sich ein harsches Vorgehen gegen eine Theologie, die bewusst kontextuell verhaftet ist. Dies stand in unauflöslicher Spannung zur Annahme, dass Glaubenswahrheiten "überzeitlich und überkulturell verbindlich" zu achten sind. Eine Einsicht, die auf dem Ersten Vatikanum im Zuge der antimodernistischen Strömungen sehr hohe Beachtung fand.
"Wenn es ernst wird, wirft das Erste Vatikanum nicht nur einen langen Schatten, dann ist es ungebrochen in Kraft, unbeschadet aller Neuansätze des Zweiten Vatikanums": Was Peter Neuner formuliert, scheint sich zumindest in den Pontifikaten der letzten Päpste niedergeschlagen zu haben. Und es findet seinen Ausdruck in einer Ekklesiologie, die sich in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr zum Problem auswächst. 150 Jahre nach diesem Konzil bewegt es immer noch die Kirche. Man wird sehen müssen, inwieweit der "synodale Weg" nun fähig ist, den Schatten des Ersten Vatikanums zu verlassen.