Befreiung in der Ausgangssperre: Pessach unter Corona-Bedingungen
Mitten in einer Pandemie den Auszug der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten zu feiern, ist eine paradoxe Situation. Zehn Plagen hatte Gott über den Pharao und sein Volk kommen lassen, bis er die Israeliten ziehen ließ – und nun wütet der Coronavirus weltweit und macht vor keiner Grenze und keiner Religion halt. So müssen nun Juden und Jüdinnen in Israel und weltweit dieses Fest der Befreiung während geltender Ausgangssperren feiern. Ebenso wie Ostern wird auch Pessach im Angesicht der Pandemie nicht verschoben – auch wenn in den biblischen Büchern der Chronik dies bereits als Möglichkeit gegeben ist (siehe 2 Chronik 30,2–5).
Kurz vor Pessach hat die israelische Regierung am Dienstag die bereits geltende Ausgangssperre nochmals verschärft. Von Dienstagabend bis Freitagmorgen ist jegliche Überlandfahrt verboten und von Mittwochmittag bis Donnerstagmorgen gilt ein umfassendes Ausgehverbot. Bereits die vorher geltenden Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus bedeuteten starke Einschnitte in die jüdische Religionspraxis. Bereits Mitte April wurde vom israelischen Gesundheitsministerium die Zahl der Gläubigen, die an einem öffentlichen Gebet teilnehmen dürfen auf 10 Personen begrenzt. Im Judentum bedarf es eines Minjan, das bedeutet zehn religiös Mündige, um einen vollständigen Gottesdient halten zu können. Doch nachdem in den Statistiken deutlich wurde, dass ein Viertel der Erkrankten während eines Gebets in einer Synagoge infiziert worden war, wurden auch die Synagogen geschlossen und radikal jede öffentliche Versammlung zum Gebet verboten. Die einzige Ausnahme gilt an der Klagemauer in Jerusalem. Dort ist weiterhin ein gemeinsames Gebet mit bis zu 10 Personen erlaubt, die zwei Meter voneinander entfernt stehen müssen.
Ultraorthodoxe Juden weigerten sich anfangs gegen Corona-Maßnahmen
Auf starken Widerstand stießen diese Maßnahmen innerhalb des ultraorthodoxen Judentums. Der feste Glaube daran, dass die Thora und das Gebet schützen und retten, führte anfänglich zu starkem Widerstand. In den Straßen der ultraorthodoxen Städte und Nachbarschaften war vermehr zu hören: "Die Gläubigen beteten selbst in Auschwitz zusammen dreimal am Tag. Und nun, hier im jüdischen Staat, soll uns dies verboten sein?" Es dauerte eine gewisse Zeit, bis die führenden ultraorthodoxen Rabbinen den Ernst der Lage erkannten und verstanden, dass es in der gegebenen Situation notwendig ist, gegen uralte Bräuche und jüdische Gesetze zu verstoßen. Ein in diesem Zweig des Judentums prominentes Beispiel hierfür ist der Rabbiner Chaim Kanievsky, der die ihm unterstehenden Synagogen und Talmudschulen anwies, trotz der Anweisungen der israelischen Regierung offen zu bleiben. Und seiner Autorität folgten viele, für die ihr gesamtes Leben vom Besuch der Synagoge und der Talmudschule geprägt ist. Erst am 29. März ordneten auch die Autoritäten des ultraorthodoxen Judentums an, dass das Gemeinschaftsgebet und das gemeinsame Talmudstudium ausgesetzt zu werden haben und dass das Pessach-Seder am Abend des 8. Aprils in diesem Jahr nur von Mitgliedern des eigenen Haushalts und ohne Gäste zu feiern ist.
Während so Teile des ultraorthodoxen Judentums sich lange gegen die durch die Ausbreitung des Coronavirus notwendigen Einschränkungen in der religiösen Praxis wehrten, zeigte in Israel eine Gruppe hochrangiger orthodoxer Rabbiner eine überraschende, pastorale Offenheit. Die orthodoxe Praxis verbietet eigentlich die Nutzung von Elektrizität am Schabbat und an Feiertagen. Doch in ihrer Halacha, das ist eine jüdische Religionsgesetzauslegung, entschieden sie, dass es gerade am Abend des Pessach für Familien wichtig ist, auch wenn sie nicht physisch zusammen an einem Ort sein können, doch innerhalb der Großfamilie und vor allem mit den Großeltern verbunden sein zu können. Daher erlauben sie am Pessach-Seder die Nutzung des Zoom-Videokonferenzdienstes, wenn die notwendigen elektronischen Geräte und die Videoverbindung vor dem Anfang des Feiertags eingeschaltet werden.
Der Rabbiner Eliyahu Abergel, der lange Zeit der Vorsitzende des rabbinischen Gerichts in Jerusalem war, erklärte zusammen mit mehreren kommunalen Oberrabbinen, dass durch die gegebene Notsituation in diesem Jahr eine Ausnahme notwendig ist. Sie erklärten: "Pessach ist ein besonderer Feiertag, insbesondere die Seder-Nacht, die von allen als ein besonderes Ereignis angesehen wird, das ein Bund zwischen Gott und Israel ist." Und mit dramatischen Worten betonten sie, dass es wichtig sei, "Senioren und älteren Menschen die Traurigkeit zu nehmen und ihnen Motivation zu geben, weiter um ihr Leben zu kämpfen, und Depressionen und geistige Schwäche zu verhindern, die sie zur Verzweiflung des Lebens führen könnten". Die beiden Oberrabbiner Israels hingegen wiesen diese Begründung und die gesamte halachische Entscheidung zurück. "Die Einsamkeit ist schmerzhaft, und wir müssen darauf reagieren, vielleicht sogar mit einer Videokonferenz am Vorabend des Feiertags, bevor er beginnt, aber nicht mit einer Schändung des Feiertags, die nur in Fällen von pikuach nefesh [um ein Leben zu retten] erlaubt ist", schrieben sie.
Ein das Fest Pessach prägender Glaubenssatz lautet: "In jeder Generation soll der Mensch sich betrachten, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen." Diese durch die Jahrhunderte bestehende Gemeinschaft wird in diesem Jahr für viele Juden und Jüdinnen in Israel in Einsamkeit gefeiert werden – auch wenn die äußerliche und spirituelle Ordnung ("seder") der familiären Feier am Abend des Pessach vollständig die zeichenhafte Erinnerung des gemeinsamen Auszugs aus Ägypten in den Mittelpunkt stellt. Besonders die Symbole des Pessachfestes – unter anderem ungesäuerte Brote, bittere Kräuter und Salzwasser – dienen als riech-, fühl- und schmeckbare, stark emtionale Erinnerungsbrücken, die die Erfahrungen der vorherigen Generationen mit den eigenen verbindet. Zum Beispiel die bitteren Kräuter erinnern an das bittere Leid der Israeliten in Ägypten, aus dem sie befreit wurden, und zugleich stehen sie für das bittere Leid das jeder Gläubige bereits im Leben erfahren hat.
Die Notwendigkeit des Erzählens
Im Zentrum der Feier des Seder-Abends in der Familie steht die Notwendigkeit des Erzählens, das an den sinnlichen Symbolen seinen Ausgang nimmt. Dieses mit der Sinneserfahrung verbundene Erzählen zielt auf die direkte Identifikation ab, wie sie bereits im Buch Exodus noch vor dem Auszug aus Ägypten vorgeschrieben wird. Ein für Pessach grundlegendes Gebot wird in Exodus 13,7 gegeben: "Ungesäuerte Brote soll man sieben Tage lang essen. Nichts Gesäuertes soll man bei dir sehen und kein Sauerteig soll in deinem ganzen Gebiet zu finden sein." Und bereits im nächsten Vers dienen diese im Judentum Mazzot genannte Brote als Ausgangspunkt für eine religiöse Erklärung: "An diesem Tag erzähl deinem Sohn: Das geschieht für das, was der HERR an mir getan hat, als ich aus Ägypten auszog."
In diesem Jahr ist die Erinnerung an die Errettung und die Gemeinschaft der Gläubigen nicht nur im Judentum, sondern auch im Christentum von besonderer Wichtigkeit. Dort, wo der gemeinsame Gottesdienst nicht möglich ist, und dort, wo selbst Familien nicht zusammen feiern können, hilft gegen die Einsamkeit nur das jede physische Distanz überbrückende Erzählen der Heilsgeschichte – zur Not auch via Videokonferenz.