Muezzin und Kirchenglocken: Emotionale Debatte um religiösen "Lärm"
Dürfen sie oder dürfen sie nicht? Und wenn sie dürfen: Wie laut dürfen sie? Die Frage, ob und wie Moscheen in Deutschland ihre Gläubigen mit dem Muezzin zum Gebet rufen dürfen, ist mit Vehemenz auf die gesellschaftspolitische Tagesordnung zurückgekehrt. Ob in Behörden, Medien, Parteien oder an den virtuellen Stammtischen bei Facebook und Twitter: Bundesweit wird derzeit wieder einmal über das Für und Wider des muslimischen Gebetsaufrufs diskutiert – und das oft mit vielen Emotionen.
Den Anlass für die aktuelle Debatte lieferte – natürlich – die Ausbreitung des Coronavirus. Nachdem die Bundesregierung Mitte März im Kampf gegen das Virus auch Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen und Synagogen untersagt hatte, stellte sich für Gemeinden aller Religionen die Frage, wie sie auch ohne die sonst übliche körperliche Nähe bei öffentlichen Gebeten und Gottesdiensten mit ihren Gläubigen in Kontakt bleiben könnten. Die christlichen Kirchen setzten dafür in den vergangenen Wochen vielerorts auf die Glocken ihrer Gotteshäuser, um im Angesicht der Pandemie zumindest ein hörbares Zeichen der Präsenz und der Zuversicht auszusenden.
Ein kommunaler Flickenteppich
Eine ähnliche Idee hatten auch viele Moscheegemeinden. Sie stellten mit Blick auf den inzwischen begonnenen Fastenmonat Ramadan in zahlreichen Kommunen den Antrag, den muslimischen Gebetsaufruf erstmals überhaupt in die Öffentlichkeit übertragen zu dürfen, um ihren Gläubigen ebenfalls ein akustisches Lebenszeichen senden zu können. Was folgte war – wie so oft in der Corona-Krise – ein kommunaler Flickenteppich. Während etwa die Behörden in Frankfurt, Krefeld und Osnabrück mit unterschiedlichen Auflagen die Erlaubnis für den Muezzin-Ruf erteilten, versagten die Verwaltungen in Bremerhaven, Mannheim und dem niedersächsischen Rinteln ihre Zustimmung.
Unabhängig von der Entscheidung der lokalen Behörden wurden die Anträge der muslimischen Gemeinden fast überall von erregten Diskussionen der Bevölkerung begleitet. Neben viel Verständnis für das Anliegen der Muslime brachen sich dabei vor allem in den sozialen Netzwerken harsche Ablehnung und zahlreiche antimuslimische Ressentiments Bahn.
Beispielhaft für das Konfliktpotential rund um den Muezzin-Ruf steht in diesen Tagen die mittelhessische Stadt Haiger. Nach einigem Hin und Her um den Antrag der örtlichen Moscheegemeinde postete der Ausländerbeirat der Stadt am vergangenen Donnerstag bei Facebook den Hinweis, dass man sich angesichts der Corona-Pandemie mit den lokalen Behörden darauf verständigt habe, im diesjährigen Ramadan jeden Abend den Gebetsruf "als hörbares Zeichen für Zusammenhalt und Solidarität" erklingen zu lassen.
Heftige Debatte im hessischen Haiger
Einen Tag später äußerte die lokale CDU ebenfalls bei Facebook Widerspruch gegen das Ansinnen. Die Erlaubnis für den Muezzin sei "ein falsches Signal", schrieb die Partei. Und weiter: "Wir respektieren die Religionsfreiheit, aber gerade jetzt muss man aus unserer Sicht nicht unnötig provozieren. Alle christlichen Gemeinden und Kirchen machen in der aktuellen Lage Abstriche und dem sollte sich auch die muslimische Gemeinde anschließen. Kirchenglocken ohne 'textlichen Inhalt' sind nicht zu vergleichen mit einem inhaltlichen Gebetsaufruf (wertende Botschaft) durch einen Muezzin." Der Beitrag löste überdurchschnittlich viele Reaktionen aus – auch vom Ausländerbeirat, der der Union in einem weiteren Posting eine "inakzeptable Stellungnahme" vorwarf. Trotzdem wurde der Muezzin-Ruf schließlich einen Tag später abgesagt, gelöst ist der Konflikt damit aber nicht.
„Der Gebetsruf des Muezzins genießt den Schutz der Religionsfreiheit.“
Das Dilemma ist in allen Städten und Gemeinden gleich: Auf der einen Seite wollen die meisten Kommunen den Muslimen gerade im Ramadan den Gebetsruf nicht verwehren. Auf der anderen Seite gibt es in vielen Behörden die Sorge, mit der Erlaubnis für den Muezzin öffentliche Unruhe und Missgunst auszulösen.
Rechtlich immerhin ist die Sache eindeutig. "Der Gebetsruf des Muezzins genießt den Schutz der Religionsfreiheit", betont der Direktor des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands, Professor Ansgar Hense, im Gespräch mit katholisch.de. Der Ruf sei eine Form der Religionsausübung und falle damit unter Artikel 4, Absatz 2 des Grundgesetzes, in dem die ungestörte Religionsausübung gewährleistet wird. Gleichwohl, so Hense weiter, sei dieses Recht natürlich nicht schrankenlos, sondern beinhalte Grenzen, die eingehalten werden müssten. So dürfe etwa eine bestimmte Lautstärke nicht überschritten werden und es müssten noch andere Zumutbarkeitsgrenzen beachtet werden.
Häufig – etwa, wenn es zu juristischen Auseinandersetzungen kommt – wird in diesem Zusammenhang auf das Bundesimmissionsschutzgesetz verwiesen. Auch die Deutsche Bischofskonferenz schreibt in ihrer 2003 veröffentlichten Arbeitshilfe "Christen und Muslime in Deutschland" mit Blick auf den Muezzin-Ruf, dass die Religionsfreiheit nicht von der Einhaltung des Immissionsschutzrechts befreie. "Immissionen, 'die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen', sind nicht mit dem Hinweis auf die Religionsfreiheit zu rechtfertigen", so die Bischofskonferenz unter wörtlicher Bezugnahme auf das Gesetz.
Grundsätzlich gilt das auch für das Läuten von Kirchenglocken. In den erregten Debatten der vergangenen Tage wurde allerdings nicht nur von der CDU in Haiger das Argument vorgebracht, dass zwischen dem kirchlichen Geläut und dem Muezzin ein entscheidender Unterschiede bestehe – schließlich sendeten die Kirchenglocken nur ein Klangsignal, während es sich bei dem muslimischen Gebetsruf um ein gesungenes Glaubensbekenntnis ("Allahu akbar") handele. Ansgar Hense sieht dieses Argument allerdings mit gemischten Gefühlen. Einerseits sei die "Lärmbelastung" durch eine Glocke und einen Sänger sicher zu unterscheiden. Ob sich hinsichtlich der rechtlichen Zulässigkeit allerdings der verbale Inhalt des Muezzin-Rufs gegenüber den bloßen Tönen des Glockengebrauchs differenzierend auswirke, sei eine offene Frage. Klar ist aber: Während Glocken etwa als Zeitansage auch eine weltliche Funktion übernehmen können, lässt sich der Ruf des Muezzins nicht in eine religiöse und eine weltliche Funktion aufspalten; er ist immer eine Form der Religionsausübung.
Kirchenglocken sorgen für mehr Ärger als der Muezzin
So oder so: Religionskritikern sind Glocken und Muezzin gleichermaßen ein Dorn im Auge – und ziehen deshalb vor Gericht. Dabei gilt jedoch: Christliche Kirchen haben – etwa mit lärmgeplagten Nachbarn – wegen ihres Glockengeläuts deutlich häufiger Ärger als Moscheegemeinden. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Während es in Deutschland laut Schätzungen rund 45.000 Kirchen gibt, liegt die Zahl der Moscheen bei unter 3.000. Und während die meisten Kirchen über ein Geläut verfügen und es auch nutzen, lassen in normalen Zeiten nur rund 30 Moscheen – überwiegend in Nordrhein-Westfalen – einen Muezzin per Lautsprecher zum Gebet rufen.
Mit Bezug auf das Glockengeläut sind in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Gerichtsurteilen gefällt worden. Daraus lässt sich ableiten, dass Kläger kaum Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie sich auf die so genannte negative Religionsfreiheit berufen. Die entsprechende verfassungsrechtliche Regelung stand schon in der Weimarer Reichsverfassung (Artikel 136) und wurde 1949 in das Grundgesetz übernommen: "Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden." Ansgar Hense betont im Gespräch aber, dass aus der diesem Artikel und möglicherweise auch Artikel 4 zu entnehmenden negativen Freiheitsseite kein "allgemeiner Konfrontationsschutz" dergestalt abgeleitet werden könne, im öffentlichen Raum nicht mit Religion behelligt zu werden. Das Grundgesetz verbürge unter dem Label der negativen Religionsfreiheit kein "Religionsfreiheitsverhinderungsrecht".
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Mitunter schlagen Glocken nachts – weshalb sich mancher Anwohner um den Schlaf gebracht sieht und vor Gericht zieht. Das Geläut im christlichen Abendland scheint nicht mehr selbstverständlich zu sein. (Artikel von Mai 2016)Der wichtigste Hebel für Gegner von religiösen Geräuschen ist somit tatsächlich eher die Frage der Bewertung und Abwägung widerstreitender Rechtspositionen. Das Recht auf Religionsausübung müsse etwa immer auch mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Gesundheit in Einklang gebracht werden, so Hense. Wer etwa wegen des nächtlichen Stundengeläuts einer Turmglocke nicht schlafen und vielleicht sogar Gesundheitsgefährdungen plausibel machen könne, habe vor Gericht größere Chancen, seine Interessen durchzusetzen. Die Zeit von 22 bis 6 Uhr ist – immissionsschutzrechtlich betrachtet – "schutzbedürftiger und lärmempfindlicher als die Tageszeit", so Hense.
Experte rät Gemeinden zu Kompromissen
Doch es geht bei der Frage nach Läuten und Rufen laut dem Juristen nicht nur um die Einhaltung von Immissionsgrenzwerten. Auch Aspekte wie die allgemeine Akzeptanz oder die Tradition würden vor Gericht berücksichtigt. So spiele es etwa eine Rolle, "dass das Glockenläuten als hier in Deutschland lang praktizierte religiöse Geräuschimmission wahrscheinlich anders zu qualifizieren ist als vielleicht ein neuartiges, auch als fremd empfundenes Geräusch", betont Hense. Die Kirchenglocken sind hier gegenüber dem Muezzin eindeutig im Vorteil, da sie nach einer Verlautbarung Kaiser Karls des Großen bereits seit dem Jahr 802 in Deutschland läuten. Der erste öffentliche Ruf eines Muezzins auf deutschem Boden war dagegen erst 1985 zu hören, als die Moscheegemeinde im nordrhein-westfälischen Düren ihn gerichtlich erstritten hatte.
Eindeutige rechtliche Lösungen gibt es laut Hense nicht; vieles sei abhängig von den jeweiligen Umständen vor Ort. Deshalb seien Kirchen und Moscheen gut beraten, kompromissbereit zu bleiben. Zwar hätten die Gerichte in der Vergangenheit meist zugunsten der läutenden Kirchengemeinden entschieden – Urteile zum Muezzin gibt es bislang kaum –, wer aber in gutem Einvernehmen mit seinen Nachbarn leben wolle, verzichte besser auf Maximalforderungen. Das scheinen auch die Moscheegemeinden in Deutschland so zu sehen. Die meisten von ihnen, die im Zuge der Corona-Krise einen Antrag für einen öffentlichen Muezzin-Ruf gestellt haben, wollen diesen – das zeigen die Diskussionen in den Kommunen – meist nicht ohne gesellschaftlichen Konsens erzwingen.