Viganòs Corona-Aufruf ist eine menschliche Bankrotterklärung
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Die Bilder dieses Wochenendes waren erschreckend: Tausende Demonstranten, teils dicht an dicht, ohne Maske, dafür lauthals tönend mit Parolen gegen die Corona-bedingten Einschränkungen. Szenen aus Fußgängerzonen und von beliebten Ausflugszielen ließen sich umstandslos ergänzen. Von ihrer angeblich geknebelten Freiheit machten die selbsternannten Querdenker und die Lockerungskünstler reichlich Gebrauch, während gleichzeitig – kaum verwunderlich – die Infektionszahlen wieder steigen und der mittlerweile wohlbekannte R-Wert erneut höher als 1 liegt.
Welche Freiheit ist das, die existenzielle Gefahren leugnet, unkalkulierbare Risiken in Kauf nimmt und sich über die Opfer hinwegsetzt, die bisher schon gebracht wurden? Es ist die Freiheit der Ignoranz. Es ist aber auch die Freiheit, die nach Kants Definition dort endet, wo die Freiheit des anderen beginnt.
Schauerlich, dass Kirchenmänner – hochrangige Kirchenmänner – den geistlosen Querdenkern und Verschwörungstheoretikern argumentativ Schützenhilfe leisten. Ein unter anderem von Kardinal Gerhard Müller unterzeichnete "Aufruf für die Kirche und für die Welt" unter dem hier zur zynischen Formel degenerierten Motto "Die Wahrheit wird euch frei machen" ist eine intellektuelle, menschliche und auch theologische Bankrotterklärung. Sie läuft auf die These einer Vernichtungskampagne ungenannter finsterer Mächte hinaus, die sich "unter dem Vorwand eines Virus" gegen die Autonomie der Kirche und letztlich die "Auslöschung der christlichen Zivilisation" richtet.
Verblendete, Verwirrte, "Obskuranten" könnte man sagen, den Kopf und sich selbst schütteln – und das Ganze vergessen. Doch wenn sich ein so bösartiges Papier öffentlich mit dem Namen und dem Gesicht des bis 2017 dritthöchsten Hierarchen der katholischen Welt verbindet, ist wohl doch ein Akt der (Selbst-)Reinigung erforderlich. "Mit Jesus Christus, auf den sich die Unterzeichner berufen, haben derart wirre Thesen nichts zu tun", hat Essens Generalvikar Klaus Pfeffer erklärt. Bischof Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, sprach von einem "grundlegenden Unterschied" in der Bewertung der Corona-Pandemie. Das ist das Wenigste.
Die Bischöfe, die in der ersten Phase der Corona-Lockerungen auf die Religionsfreiheit und die verbrieften Rechte der Kirche gepocht haben, sind jetzt auch in der Pflicht. Mit mindestens der gleichen Vehemenz müssen sie denen entgegentreten, die nur zum Schein als Verteidiger der Freiheit auftreten oder mit einem Zerrbild von Freiheit so operieren, dass es jeden von uns, unsere Gesellschaft und das Überleben ungezählter Menschen gefährdet.