Ist die Kirche in der Corona-Krise ihrem Auftrag nachgekommen?
Vor kurzem hat ein Interview mit Christine Lieberknecht, der ehemaligen Ministerpräsidentin Thüringens, für Aufsehen gesorgt. Darin beklagt die evangelische Theologin und Frau eines Pfarrers, die Kirche habe in Corona-Zeiten "Hunderttausende Menschen alleingelassen". Die Schuld gibt sie weniger den Pfarrern und Laien an der Basis als den Kirchenleitungen, die nicht vehement genug das Recht auf die Begleitung von Sterbenden eingefordert hätten, obwohl es den Geistlichen nach dem Infektionsschutzgesetz eigentlich zugestanden hätte.
Für ein abschließendes Urteil, ob und wieweit die christlichen Kirchen sowohl ihrem seelsorglichen Auftrag als auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung auf unterschiedlichen Ebenen gerecht geworden sind, ist es noch zu früh. Die Antwort wird wohl differenziert ausfallen: Überraschend viele Gemeinden haben zügig und kreativ auf die Herausforderungen eines abrupten Shutdowns reagiert, etwa durch liturgische Angebote im Netz oder durch diakonische Angebote für ältere und alleinstehende Menschen. Andere Gemeinden aber waren wie gelähmt und vermittelten den Eindruck, die Kirche sei in Corona-Zeiten abgetaucht. Was das Krisenmanagement der einzelnen Bistumsleitungen in Corona-Zeiten betrifft, wären folgende Kriterien anzulegen: Waren die liturgischen und pastoralen Direktiven und Impulse der jeweiligen Situation angemessen? Wurden sie transparent und zeitnah kommuniziert? War das behutsame Bemühen spürbar, die Herausforderung geistlich zu deuten und zu gestalten, so dass sich Menschen beim Leben und letztlich auch beim Sterben nicht allein gelassen fühlten?
Selbstkritische Reflexion auch in Pfarreien und Gemeinden
Die Corona-Krise wirft alle kurz- bis mittelfristigen Planungen derjenigen über den Haufen, die für einen Bistumshaushalt verantwortlich sind. Jetzt besteht die Gefahr, dass die leeren Kassen ein solches Maß an Kräften absorbieren, dass für grundsätzliche Reflexionen keine Zeit und Energie mehr bleibt. Dies wäre fatal, denn eine gute Reflexion des Getanen ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Weichen für die Zukunft richtig gestellt werden können. Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, empfindet die Corona-Krise in einem Zeitungsinterview als "so einschneidend, dass wir nicht einfach zu irgendeiner Tagesordnung übergehen können". Persönlich ist er der Ansicht, dass die Kirchen insgesamt verantwortlich gehandelt hätten. Trotzdem kündigt er eine selbstkritische Diskussion darüber an, ob man staatliche Vorgaben nicht in einer Art vorauseilendem Gehorsam zu übereifrig oder (als anderes Extrem) zu zögerlich aufgegriffen habe.
Bätzing zielt mit seiner Überlegung auf die Ebene der Deutschen Bischofskonferenz. Aber auch auf untergeordneten Handlungsebenen steht eine kritische Selbstreflexion an: In den Pfarreien und Gemeinden sowie den Teams der Kategorialseelsorge, etwa in einem Krankenhaus oder einem Altenheim. Auch die wissenschaftliche Theologie wird sich der Frage nicht entziehen dürfen, ob sie ihren Beitrag geleistet hat, und zwar auf einer doppelten Ebene: im behutsam-tastenden Versuch einer theologisch-geistlichen Deutung der Ereignisse sowie auf der handlungspraktischen Ebene. Eine Selbstreflexion sollte weder im reinen Verteidigungsmodus erfolgen noch den Charakter der Selbstzerfleischung annehmen. Sie darf berücksichtigen, dass auf die Pandemie niemand so recht vorbereitet war und dass Menschen Fehler machen dürfen.
Wichtig ist jedoch die Grundhaltung, mit der man darauf blickt: Dass die Corona-Pandemie zwar ein Krisenereignis ist, welches die Kirche und die Gesellschaft aus ihrem gewohnten Rhythmus geworfen, jedoch die kirchliche Pastoral nicht von ihrem eigentlichen Auftrag weggeführt hat. Im Gegenteil: Ein Ereignis wie die Corona-Pandemie ist der Ernstfall von Pastoral, deren Qualität sich auch und vor allem darin erweist, wie sie mit solchen Ereignissen umzugehen vermag. Weil der gewohnte Rhythmus durchbrochen wurde (von etablierten Gottesdienstformen bis zum Pfarrfest), ist mancherorts Raum für Neues entstanden. Die eine oder andere Oster- und Pfingstaktion hat Menschen in den Gemeinden an-gesprochen, die man sonst nie erreicht hätte. Es wäre bedauerlich, wenn solche Initiativen bei der Rückkehr zur gesellschaftlichen und pastoralen Normalität wieder im Sande verlaufen würden. Trotzdem sollten die Herausforderungen der vergangenen Wochen und Monate nicht vorschnell zu einer "pastoralen Chance" verklärt werden. Eine solche Redeweise schmeckt nach kirchlicher Selbstreferentialität und birgt die Gefahr in sich, die Notsituation von Menschen für eine bessere kirchliche Reputation verzwecken zu wollen – eine Verlockung, der eine durch den Missbrauchsskandal arg ramponierte Kirche keinesfalls erliegen sollte. Denn die Kirche ist umso glaubwürdiger und pastoral fruchtbarer, je mehr sie versucht, selbstlos für die Menschen da zu sein.
Vor einer kritischen Bestandsaufnahme muss man sich über die Kriterien im Klaren sein, nach denen das pastorale Tun reflektiert werden soll. Diese werden in einem Seelsorge-Team für Demenzkranke oder in einem Hospiz anders als in einem kirchlichen Jugendhaus ausfallen. Als Leitfrage kann jeweils gelten: Welchem Ideal und welchem Leitbild fühlen wir uns in unserem Arbeitsbereich, in unserer Einrichtung verpflichtet und inwiefern sind wir dem gerecht geworden? Konnten wir mit den Menschen und ihren seelsorglichen Bedürfnissen, für die wir da sein möchten, in Kontakt bleiben? Was ist uns gelungen, wo gab es "Highlights" – und wer ist auf der Strecke geblieben?
Reflexion auf Basis der drei Grunddimensionen der Pastoral
Bei den Gemeinden und Pfarreien bietet es sich an, die Reflexion an den drei Grunddimensionen der Pastoral Martyria, Leiturgia und Diakonia anzulehnen, die für diese Sozialformen konstitutiv sind: Welche Konsequenzen hatte der Shutdown für jede der drei Dimensionen konkret vor Ort, angefangen von der Erstkommunionvorbereitung und der geplanten Feier des Weißen Sonntags, über die Entwicklung liturgischer Angebote bis hin zu einer diakonischen Präsenz? Welche alternativen pastoralen Formen wurden in der Zeit der Krise entwickelt? Welche davon haben sich bewährt und sollten in Nach-Corona-Zeiten fortgeführt werden und welche nicht? Auch die vierte pastorale Grunddimension der Koinonia lohnt berücksichtigt zu werden: Wie hat die Corona-Pandemie das Miteinander verändert? Welche Gemeinschaftsformen sind weggebrochen und zu wessen Lasten? Sind andere Gemeinschaftsformen neu entstanden und wer war darin involviert?
Um die Gemeinden in ihrem pastoralen Qualitätsmanagement zu unterstützen, könnten Bischöfliche Seelsorgeämter eine Handreichung entwickeln, die auf der Basis pastoraltheologischer und liturgiewissenschaftlicher Kriterien entwickelt worden ist und den Gemeinden und Pfarreien bei einem konstruktiven Reflexionsprozess hilft. Insgesamt ist entscheidend, ob Kirche sich auch und gerade in Corona-Zeiten von "der Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art" (Gaudium et spes 1) hat berühren lassen, im Rahmen des Möglichen für sie da war und die Menschen auf der Basis des christlichen Glaubens zu stärken und zu trösten vermochte.