Antworten auf Corona: Philosophie gegen kirchliche Selbstbezüglichkeit
Leben mit Unsicherheiten. Leben mit Ungewissheiten. Leben mit Verwundbarkeiten. Leben mit Schuld. Und Leben mit Haltung: So beschreibt das Forschungsinstitut für Philosophie, was das Leben mit der Corona-Pandemie für Menschen bedeutet – und wie die Krise bewältigt werden kann. "Angesichts der durch die Krise verursachten Orientierungsprobleme hängt die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft davon ab, ob es gelingt, eine Haltung und Ethik des (Zusammen)Lebens zu entwickeln, die in der Empfindlichkeit für die spezifischen Verwundbarkeiten anderer gründet", schreiben die fünf Autoren des Hannoveraner Forschungszentrums. Auf 17 Seiten haben sie "Antworten auf eine kulturelle Herausforderung" gesammelt, die erklären, was damit gemeint ist.
Den Auftrag dazu gab das Bistum Hildesheim. Das Forschungsinstitut ist eine einmalige Einrichtung in der Kirche in Deutschland; 1988 wurde es vom damaligen Hildesheimer Bischof Josef Homeyer gegründet. "Bereits Thomas von Aquin hat darauf hingewiesen, dass ein Irrtum über die Welt in ein falsches Denken über Gott mündet", erläutert der Direktor Jürgen Manemann, warum die Kirche ein philosophisches Institut trägt. "Wer von der Welt nichts versteht, versteht auch von Gott nichts." Und Philosophie helfe der Kirche, die Welt zu verstehen.
Corona. Antworten auf eine kulturelle Herausforderung
Im Auftrag des Bistums Hildesheim hat das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover ein Papier zur Corona-Krise erarbeitet, in dem zentrale Aspekte der Pandemie als kulturelle Herausforderung in den Blick genommen werden: Fragen nach dem Umgang mit Nichtwissen, Verwundbarkeit, Schuld und einer Haltung angesichts einer Situation, die wesentlich von Unsicherheit geprägt ist. Das Papier steht als kostenloser Download und in einer Audioversion zur Verfügung.Dass es in Hildesheim eine derartige Einrichtung gibt, hat Methode: "Es geht darum, ekklesiologische Selbstbezüglichkeit aufzubrechen", erläutert Manemann. Zwar würden oft sehr gute Papiere von der Kirche verfasst, die sich auch an alle Menschen richten. "Oft sind das aber innerkirchliche Dokumente, und sie werden auch nur so verstanden, weil sie eine gewisse Sprache sprechen und so theologisch aufgeladen sind, dass andere, die nicht zur Kirche gehören, gar nichts damit anfangen können und nicht einmal merken, dass sie angesprochen wären", sagt der Institutsdirektor, der selbst Fundamentaltheologe ist.
Ein philosophischer Text als Dienst am Menschen
Das Papier zur Corona-Krise sei dafür ein Beispiel: Ein philosophischer Text aus dem Raum der Kirche als Dienst am Menschen. Ein explizit philosophischer Zugang ermögliche auch, Themen und Gedanken einzubringen, die in kirchlichen Dokumenten selten auftauchen – den der Tragik etwa. "Ein Theologe kann vom Begriff des Tragischen eigentlich gar nicht sprechen", betont Manemann. Tragik ist kein biblischer Begriff, er entstammt der antiken Kultur. "Er unterstellt eine Weltverfasstheit, die mit innerer Notwendigkeit immer wieder in schuldlose Schuldverstrickungen hineinführt. Theologisch tut man sich mit so einem Begriff schwer". Viel zu schnell gehe es aus aus kirchlicher Sicht oft schon um Erklärungen, Sinn und Erlösung in unverständlichem Leid.
Für die Philosophen ist der Begriff des Tragischen, einer schuldlosen Schuldverstrickung, zentral in ihrer Deutung der Herausforderungen der Corona-Krise. Einfache Antworten gibt es nämlich nicht, wenn ein Gesundheitssystem über seine Kapazitäten belastet wird: Wer Triage betreibt, wer auswählen muss, wem mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen geholfen werden soll, der muss damit umgehen, dass eine Entscheidung für einen Menschen zugleich eine implizite Entscheidung gegen einen anderen sein kann. Menschen müssen damit leben, dass sie ohne Schuld unwissentlich andere Menschen angesteckt haben. "Die Schuld der Weiterverbreitung verweist vielmehr wieder auf einen Zusammenhang, aus dem sich das vergesellschaftete Individuum nicht lösen kann", heißt es in dem Papier.
"Wir sagen nicht: Die Situation ist tragisch. Aber wir bieten das als eine Sehhilfe im Bereich des Politischen an: Etwas zu sehen, das man mit eigenen Kategorien nicht wahrnimmt", erläutert Manemann. Ein philosophischer Zugang biete eine Chance, aus allzu einfachen Antwortversuchen auszubrechen. Deshalb macht sein Papier auch den Begriff der Ambiguitätstoleranz stark: Lernen, mit mehrdeutigen, nicht eindeutig zu klärenden, unüberschaubaren und unplanbaren Situationen umzugehen: "Wir begegnen der Ambiguität nicht mit einem Wahrheitsanspruch, wir wollen die Widersprüchlichkeit nicht durch die Wahrheitsfrage auflösen. Wir versuchen stattdessen Menschen dafür zu sensibilisieren, dass es so etwas wie eine Urteilskraft braucht."
In der Krise braucht es Haltung
Für diese Urteilskraft müssen Menschen Haltung, also eine "innere Festigkeit" entwickeln, sind die Philosophen überzeugt. "Ein Mensch mit Haltung besitzt Halt, weil er in der Lage ist, der Gegenwart durch inneren Abstand kritisch zu begegnen. Er ist sogar dem Unabänderlichen nicht passiv ausgeliefert, weil er selbst dann, wenn er die Umstände nicht mehr zu ändern vermag, immer noch fähig ist, etwas zu verändern, nämlich seine Einstellung und sein Verhältnis zu den Umständen." Eine solche Widerstandsfähigkeit sei in Corona-Zeiten von größter Bedeutung.
Auch wenn das Papier aus dem Forschungsinstitut ansonsten sehr zurückhaltend ist, was Begriffe aus dem Bereich von Theologie und Kirche angeht: Hier schafft es dann doch einer in den Text: "Diese innere Haltung entsteht durch eine aktive, geradezu kontemplative Aufmerksamkeit für das Umfeld", ist dort zu lesen. "Sie unterscheidet sich von Angewohnheiten und Routinen, die in Unaufmerksamkeit gründen und von Trägheit bestimmt sind. Eine solche innere Haltung setzt Resonanzfähigkeit voraus." Resonanz erfahre eine Person, die fähig ist, sich von dem, was um sie herum geschieht, berühren zu lassen. Das sei ein Anknüpfungspunkt für die Kirche, erläutert Manemann: "Die Kirche müsste den Menschen als Angebot zeigen, was es heißt, ein kontemplatives Leben zu führen." Das sei auch das, was der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer mit "spiritueller Revolution" meine.
Während der Hochphase der Corona-Krise hat Manemann seine Kirche sehr aktiv wahrgenommen – aber eben sehr aktiv in einer Selbstbeschäftigung, in den Debatten über Gottesdienste im Livestream, über Liturgie und die Zukunft der öffentlichen Gottesdienste etwa. Der Institutsdirektor hätte sich statt einer Diskussion über Religionsfreiheit und Gottesdienstverbote lieber eine starke Stimme für Arme und Obdachlose in der Kirche gewünscht. "Die Kirche muss aus dieser Selbstbezüglichkeit heraus", wiederholt er gleich mehrfach im Gespräch.
Viele Sterbende und Tote wurden allein gelassen
"Die Schuldfrage stellt sich auch angesichts der Tatsache, dass in der Corona-Krise viele Sterbende, Tote und Trauernde alleingelassen wurden", beklagt das Papier und wirft Fragen auf, die sich nicht nur die Kirche stellen muss: "Wer vermag hier Trost zu spenden, damit die Trauer nicht in Schuldkomplexe und Traumatisierung umkippt? Wer beklagt die mangelnde Solidarität gegenüber den Toten? Wer schützt sie vor dem Vergessen?" Auch wenn es keine Fußnote verrät: An solchen Sätzen zeigt sich, dass Manemann ein Schüler des Münsteraner Fundamentaltheologen Johann Baptist Metz ist. In dessen "Politischer Theologie" ist der Gedanke zentral, die Erinnerung an das Leiden wachzuhalten. "Eine Gesellschaft, die diese Fragen nicht stellt, verliert ihre Humanität", steht auch in Manemanns Corona-Papier.
„Ein Mensch mit Haltung besitzt Halt, weil er in der Lage ist, der Gegenwart durch inneren Abstand kritisch zu begegnen.“
Bei der praktischen Umsetzung der Überlegungen sieht er durchaus Aufgaben für die Kirchen, besonders im Bildungsbereich. Die nötige Haltung zum Umgang mit Verletzlichkeit und Ungewissheit auszubilden ist für Manemann eine zentrale Bildungsaufgabe. "Wir brauchen Bildungseinrichtungen, in denen Menschen das erfahren, was Psychologen 'Selbstwirksamkeit' nennen." Natürlich sei der klassische Akademie-Vortrag auch wichtig. Manemann schwebt aber eher "service learning", "Lernen durch Engagement" vor, mit dem kirchliche Einrichtungen Menschen unterstützen können, eine Haltung zu entwickeln: "Eine katholische Akademie, eine Erwachsenenbildungsstätte sollte in ihrem Umkreis Ausschau halten: Wo gibt es Probleme, die die Kommune nicht löst und nicht lösen kann. Dann sammelt sie Menschen, die sich für die Lösung des Problems begeistern lassen und sich in der Lösung Bildung aneignen."
Solche Bildung helfe dabei, Krisen wie die Corona-Pandemie zu bewältigen. Neben der gesundheitlichen Krise stelle diese Krise nämlich auch "eine fundamentale kulturelle Herausforderung dar", schließt das Papier. Dass in dieser Herausforderung auch eine Chance steckt, vermeiden die Autoren zu schreiben – zu deutlich haben sie das unnötige, aber unvermeidbare Leid der Betroffenen vor Augen. Eine Hoffnung äußern sie doch: Dass es im Umgang mit der Krise gelingt, Menschen darin zu unterstützen, "eine sorgende Haltung auszubilden, die nicht in der Sorge um die eigene Verwundbarkeit steckenbleibt, sondern sich ? für die Verwundbarkeit anderer öffnet" – und so den Weg zu einer besseren Welt eröffnet.