Maria von Nazareth: Was wir wirklich über sie wissen
Zwar ist der September kein expliziter Marien-Monat wie Mai oder Oktober. Aber dennoch ist diese Zeit in besonderer Weise mit der Gottesmutter verbunden, was vor allem in den drei Marienfesten zum Ausdruck kommt, die sehr eng beieinander liegen: Mariä Geburt am 8. September, Mariä Namen am 12. September und das Gedächtnis der Schmerzen Mariens am 15. September. Zugleich markiert das Geburtsfest Mariens auch das Ende des sogenannten "Mariendreißigers", also jenen Zeitraum zwischen dem "großen Frauentag" am Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel und dem "kleinen Frauentag" am 8. September. Deshalb kann man wohl mit Fug und Recht sagen, dass auch der September ein Marien-Monat ist, wenngleich er nicht durch besondere Andachtsformen, wie Maiandachten oder Rosenkränze, geprägt ist.
Diese enge Folge von Marienfesten bietet auch die Gelegenheit den Blick neu auf Maria zu lenken. So oft wird die Gottesmutter in verschiedener Form geehrt und verehrt, nicht zuletzt auch durch das dreimalige Angelus-Gebet an jedem Tag. Doch wer war Maria eigentlich? Was weiß man über ihre Person und ihr Wirken, und wie wird sie in den Evangelien geschildert? Eine Spurensuche auf einem durchaus verworrenen Gebiet, die nicht unbedingt die Ergebnisse bringen wird, die man vielleicht gerne erwartet hätte.
Die erste Einsicht, die am Beginn dieser Suche nach Maria steht, ist bereits mit einer enormen Ernüchterung verbunden: Es gibt keine historische Quelle außerhalb der Bibel, aus der etwas über das Leben Mariens zu entnehmen wäre. Auch archäologische Funde, aus denen man etwas über Maria erfahren könnte, gibt es nicht. Dadurch bleibt letztendlich keine andere Möglichkeit, als die Befunde der Heiligen Schrift zusammenzufassen und so ein Bild von Maria zu zeichnen, das allerdings bereits aus einer bestimmten Perspektive heraus entstanden ist. Daneben kann man auf bestimmte Zeugnisse der Tradition zurückgreifen, die sich im Laufe der Jahrhunderte rund um das Leben Mariens entwickelt haben. Aber auch diese Traditionen fußen wiederum auf sehr vagen, viele Jahre später entstandenen Lebensbeschreibungen. Mit diesen Zeugnissen soll hier zunächst begonnen werden.
Grundsätzlich gibt es im Heiligen Land bis heute zahlreiche Stätten, die mit dem Leben Mariens in Verbindung gebracht werden. Prominent steht an erster Stelle die Sankt-Anna-Kirche in Jerusalem, die sich nahe des Beginns der heutigen Via Dolorosa befindet. Die Legende erzählt, dass Joachim und Anna, die beiden Eltern Mariens, hier ihr Wohnhaus besaßen und ihre Tochter hier das Licht der Welt erblickt hat. Bis heute kann man den traditionellen Ort der Geburt Mariens in einer Krypta der Anna-Kirche besuchen. Wie, wann und warum Maria schließlich ins galiläische Nazareth, das immerhin gut 150 Kilometer nördlich von Jerusalem liegt, übersiedelte, ist ungewiss. Wahrscheinlich lebte ihr späterer Verlobter Josef in Nazareth, den sie vielleicht in Jerusalem kennenlernte. Das aber ist bloße Spekulation und durch kein Quellenzeugnis belegbar.
In Nazareth jedenfalls scheinen Maria und Josef für längere Zeit sesshaft gewesen zu sein; darauf weist auch die Tatsache hin, dass Nazareth vom biblischen Zeugnis als Heimatstadt Jesu angesehen wird. Schließlich gibt es erst wieder im Hinblick auf das Ableben Mariens erneute Überlieferungen: Sie sind wiederum mit Jerusalem verbunden. Hier, so heißt es, habe Maria zusammen mit Johannes, dem Lieblingsjünger, in einem Haus auf dem Berg Sion gewohnt. In diesem Haus sei Maria gestorben, so erzählen es die Legenden. Heute wird in der Dormitio-Basilika auf dem Zionsberg dieses Gedächtnis der Entschlafung Mariens in der Krypta bewahrt, in der eine eindrückliche Marien-Figur an dieses Ereignis erinnert. Der Ort ihrer Bestattung befindet sich allerdings nicht hier, sondern im Kedrontal, wo eine Kirche seit der byzantinischen Zeit das Grab Mariens bewahrt. Dieses ist freilich leer, denn Maria ist ja laut kirchlicher Lehre mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen worden.
Oberflächliche Aussagen bei Paulus
Neben dieser Jerusalem-Tradition gibt es übrigens noch eine zweite, alternative Überlieferung zum Lebensende Mariens: Dort heißt es, Maria sei mit dem Lieblingsjünger Johannes nach Ephesus übergesiedelt, habe dort ein Haus mit ihm bewohnt und sei dort auch gestorben. Zumindest seit den Visionen der seligen Mystikerin Anna Katharina Emmerick ist diese Version weit verbreitet. Freilich dient in erster Linie das in Ephesus seit langer Zeit verehrte Johannes-Grab als Indiz dafür, dass auch die Gottesmutter dort ihren Lebensabend verbracht habe. Wenngleich die Ephesus-Überlieferung über eine sehr lange Zeit bewahrt wurde und das Haus Mariens in Ephesus bis heute Ziel zahlreicher Wallfahrten ist, war die Jerusalem-Tradition doch immer schon viel stärker ausgeprägt.
Schließlich soll noch ein Blick in die Bibel erfolgen, um die Perspektive auf das Leben Mariens noch einmal zu weiten: Die ältesten Aussagen über Maria, die wir bei Paulus finden, sind sehr oberflächlich und nehmen keineswegs in direkter Weise auf die Familie Jesu Bezug. Zwar erwähnt der Galaterbrief, dass Jesus "von einer Frau geboren war" (vgl. 4,4f), doch weder weist Paulus direkt auf Maria hin, noch interessieren ihn die Umstände oder der Ort der Geburt. In der Hoffnung, bei Paulus etwas über das Leben Mariens zu erfahren, erleben wir eine herbe Enttäuschung; die heilsgeschichtliche Bedeutung Marias bleibt bei ihm radikal offen.
Anders sieht es in den Evangelien aus: Hier gibt es zahlreiche Hinweise auf Maria und ihr Leben, wenngleich auch hier beim ältesten Evangelisten, Markus, ein gewisses Desinteresse an Maria erkennbar wird. Bei ihm wird sie zwar als "Mutter Jesu" bezeichnet, doch hebt er sie keineswegs in einer besonderen Weise aus dem Kreis der anderen Jünger hervor. Bei Matthäus und Lukas findet sich dagegen eine bewusste Hinwendung zu Maria, die vor allem in der Erzählung der Vorgeschichte Jesu erfolgt. Prominent sticht natürlich das Lukasevangelium mit seiner detailliert komponierten Geburtsgeschichte heraus. Was sich zusammenfassend festhalten lässt: Maria wohnt zum Zeitpunkt der Empfängnis ihres Kindes in Nazareth, sie ist mit Josef verlobt, die Geburt des Kindes erfolgt in Betlehem, gemäß Matthäus flieht die Familie anschließend nach Ägypten, um schließlich nach Nazareth zurückzukehren. Damit sind die groben Lebenslinien Mariens gezogen, über Details schweigen sich die Evangelien aus. Vor allem am Beginn der Jesusgeschichte rückt Maria in den Fokus, doch auch unter dem Kreuz ist sie präsent. Eine alte Überlieferung, die sich in allen Evangelien befindet, erzählt, dass die Frauen in der Jüngerschaft Jesu ihm von Galiläa nach Jerusalem gefolgt sind. Alleine bei Johannes findet sich allerdings der Hinweis, dass auch Maria, die Mutter Jesu, zusammen mit dem Lieblingsjünger der Kreuzigung beigewohnt habe.
Natürlich stellt sich gerade bei den biblischen Zeugnissen die Frage, inwiefern diese für die Rekonstruktion der Lebensgeschichte Mariens tragfähig sind. Immerhin wurden diese Texte vor allem deshalb geschrieben, um mit ihnen theologische Aussagen zu transportieren. Am Ende dieses Durchgangs bleibt daher auch ein ernüchterndes Ergebnis: Viele gesicherte Informationen sind über das Leben Marias nicht herauszubekommen. Die Indizien weisen darauf hin, dass sie wohl mit ihrem Verlobten Josef im galiläischen Dorf Nazareth zuhause war. Vielleicht ist sie später nach Jerusalem übergesiedelt und dort auch gestorben. Die Legenden erzählen es jedenfalls. Historisch fassbar ist es allerdings nicht, wie so vieles aus ihrem Leben. So bleibt die Biografie Mariens vor allem eine, die durch Traditionen, Überlieferungen und das Zeugnis der neutestamentlichen Schriften entstanden ist, die aber über außerchristliche Quellen nicht fassbar ist.