Wo die Gottesmutter einst "entschlafen" sein soll
Der 15. August wird in der Kirche als Feiertag begangen; in manchen Gemeinden ist der Festtag sogar für alle Arbeitnehmer gesetzlich frei. Die Rede ist von Mariä Himmelfahrt. Oder korrekter: die Aufnahme Mariens in den Himmel. Ein Tag, der besonders mit dem Brauchtum der Kräuterweihe verbunden ist. In der Zeit, in welcher der Sommer seinen Höhepunkt erreicht und die Natur in den buntesten Farben aufblüht und erstrahlt, feiert die Kirche Maria. Zunächst ist es eigentlich ein Gedächtnis an ihren Tod: Maria ist, wie jeder andere Gläubige auch, gestorben, im Kreis der Apostel, wie es die Legende erzählt. Und doch weist das Fest auf etwas anderes hin: Maria ist nicht im Tod geblieben, sie ist ins Leben hinübergegangen; in das Leben, das Gott all denen bereitet hat, die ihn lieben. Dieses Glaubensgeheimnis wird überall in der Kirche am 15. August gefeiert. In ganz besonderer Weise wird es an dem Ort begangen, an dem Maria entschlafen sein soll: in der Abtei Dormitio auf dem Berg Zion in Jerusalem.
Steigt man aus der Oberkirche in die frisch renovierte Krypta hinab, bietet sich ein wunderbarer Anblick: Inmitten der Rotunde findet sich eine Darstellung der entschlafenen Maria, die von einem sechseckigen Kuppelbau gesäumt wird. Ungefähr ab dem 7. Jahrhundert wurde die Legende von der Entschlafung Mariens mit der Kirche auf dem Berg Zion verbunden. Fortan war dies das hauptsächliche Ereignis, an das in dieser Kirche erinnert wurde. Einer Legende aus dem 7. oder 8. Jahrhundert gemäß wird erzählt, dass der Apostel Johannes zusammen mit seinem Bruder Jakobus das Gebäude auf dem Berg Zion gekauft habe, nachdem ihr Vater Zebedäus gestorben sei. In diesem Haus habe Johannes die Mutter Jesu nach dessen Tod und Auferstehung aufgenommen, bis diese dort selbst entschlafen sei. Aus allen Enden der Welt seien die Apostel zusammengekommen, um dem Sterben Mariens beizuwohnen. Damit jedenfalls hatte sich in dieser Zeit endgültig die Erinnerung an das Sterben der Gottesmutter auf dem Berg Zion etabliert.
Eine erste Kirche bestand auf dem Zion wohl schon zu Beginn der byzantinischen Zeit, dort wurde vornehmlich das Gedächtnis an die Geistsendung an Pfingsten bewahrt. Infolge des Konzils von Konstantinopel im Jahr 381, welches sich in besonderer Weise mit dem Heiligen Geist auseinandersetzte, wurde auf dem Zion eine neue Kirche errichtet. Diese sogenannte Hagia Sion wurde vermutlich um das Jahr 392 konsekriert; auf der Mosaikkarte von Madaba ist sie um 600 erstmals als monumentale, geostete Basilika abgebildet. Im Zuge des Persereinfalls 614 wurde die Kirche wohl zerstört, unter dem Patriarchen Modestus aber sehr zügig wiederaufgebaut. In dieser Zeit wurde die Hagia Sion auch hauptsächlich mit dem Gedenken an die Entschlafung Mariens verbunden.
Freilich hatten sich auch andere Erinnerungsorte auf dem Zion erhalten: der Abendmahlssaal und damit auch der Ort der Geistsendung an Pfingsten, das Davidsgrab sowie die Säule, an welcher Jesus bei seiner Geißelung festgebunden worden sein soll. Die Vielzahl der heiligen Orte zeigt, welche Bedeutung der Berg Zion im Laufe der Zeit für die christliche Gedächtnislandschaft Jerusalems erhielt. Die byzantinische Kirche bestand jedenfalls mehr oder weniger unbeschädigt bis zur Kreuzfahrerzeit – zumindest gibt es keine Belege, dass Kalif al-Hakim 1009 neben der Grabeskirche auch die Hagia Sion zerstört habe. Die Kreuzfahrer nahmen sich der Kirche an und bauten sie in neuer Pracht wieder auf; die Kirche erhielt den Namen "Sancta Maria in Monte Sion", während das Gedächtnis des Abendmahls und der Geistsendung in das "Obergemach" auf dem Zion wanderte. Zwei Jahrhunderte später, 1219, wurde die Kirche von den aijubidischen Truppen geschleift; während der zweiten Kreuzfahrerzeit errichteten die Christen auf dem Zion das Gebäude, in dem sich im unteren Teil das Davidsgrab und im Obergemach der Abendmahlssaal befindet. Das Umfeld verfiel im Laufe der Jahrhunderte.
Deutsche Kirchen als architektonische Vorbilder
Erst am 31. Oktober 1898 erwarb der deutsche Kaiser Wilhelm II. das Grundstück auf dem Zion, um in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Verein vom Heiligen Land dort eine Kirche und ein Kloster zu erbauen. Als Architekt der Kirche, die als Rundbau mit vier Türmchen geplant wurde, fungierte der Kölner Diözesanbaumeister Heinrich Renard. Als architektonische Vorbilder dienten sowohl der Aachener Dom als auch die Kirche St. Gereon in Köln. Die Kirche, die der Kaiser in die Obhut deutscher Benediktiner übergab, wurde am 10. April 1910 konsekriert. Mit ihrem Namen "Dormitio Beatae Mariae Virginis" bewahrt sie auf dem Berg Zion bis heute das Gedächtnis an die Entschlafung Mariens, das seit dem 7. Jahrhundert dort verhaftet war.
Doch es gibt in Jerusalem noch einen zweiten Ort, der sehr eng mit dem Lebensende Mariens verbunden ist: Denn die Ursprungslegende der Dormitio berichtet, Maria sei zwar im Haus des Jakobus auf dem Zion entschlafen, ihr Leichnam wurde aber ins Kedrontal gebracht und dort beigesetzt. Deshalb findet man bis heute in der Jericho-Straße die Kirche, die das Mariengrab beherbergt. Eine genaue Ortsangabe die Beisetzung Mariens betreffend findet man freilich nirgends; in den byzantinischen Texten heißt es, ihr Grab liege "im Osten Jerusalems", "im Tal Joschafat" oder "in Getsemani". Freilich muss dazugesagt werden, dass Jerusalem nicht die einzige Stadt ist, die einen Anspruch auf das Mariengrab erhebt: Eine andere Legende erzählt, dass Maria nach der Auferstehung ihres Sohnes mit dem Apostel Johannes nach Ephesus gekommen und dort gestorben sei. Für diese Annahme gibt es jedoch keine tragkräftigen Hinweise – am wahrscheinlichsten gilt immer noch, dass Maria in Jerusalem gestorben ist und hier auch beigesetzt wurde. Da sich im Kedrontal schon seit frühjüdischer Zeit Grabanlagen befunden haben, klingt es einigermaßen plausibel, an diesem Ort das Mariengrab zu vermuten.
Erst im 5. Jahrhundert gibt es Hinweise auf eine Marienkirche im Kedrontal, in der sich wohl eine isolierte Grabesädikula befunden hat – ähnlich, wie dies bis heute in der Anastasis der Fall ist. Man kann vermuten, dass die neu entstandene Marienfrömmigkeit mit dem Konzil von Ephesus im Jahr 431 zusammenhängt, auf dem die Gottesmutterschaft Mariens das vorherrschende Thema war. Die Pilgerberichte des 6. Jahrhunderts erwähnen eine "Basilika der Herrin Mariae", in dem sich ihr Grab befindet. Zwar wurde die Kirche wohl beim Einfall der Perser 614 stark beschädigt, doch tat dies der Verehrung des Grabes keinen Abbruch; vielmehr entstanden immer neue Legenden, die bezeugen wollen, dass der Leichnam Mariens tatsächlich an diesem Ort beigesetzt worden war. Die Kreuzfahrer jedenfalls bauten die Kirche in sehr prächtigem Zustand wieder auf, die neugegründete Abtei "Sancta Maria in valle Josaphat" gehörte bald zu den reichsten Klöstern im ganzen Abendland. Die ausladende Oberkirche der Kreuzfahrer wurde von Saladin 1187 geschleift, nur die Unterkirche blieb bestehen. Eine große Treppenanlage führt heute in die Kirche, die eher einer dunklen Krypta ähnelt, hinab. Dort kann man die Grabädikula Mariens besuchen; sie besteht aus einem isolierten Felsengrab, in dessen Grabkammer sich eine Liegebank befindet, auf die einst der Leichnam gelegt worden war.
Es ist ein augenfälliges Zeichen, dass das Mariengrab im Kedrontal und das Grab Jesu in der Anastasis eine so hohe architektonische Ähnlichkeit aufweisen. Beide Gräber sind leer. Die Pilgern, die bis heute in die Heilige Stadt kommen und die Orte besuchen, sehen ganz offensichtlich, was sie glaubend bekennen: Das Grab Jesu ist leer, weil er von den Toten auferstanden ist. Und auch die Grabkammer Mariens ist leer, weil sie als erste der Glaubenden Anteil erhalten hat am "Leben der kommenden Welt". Die christliche Erinnerungslandschaft Jerusalems macht deutlich: Maria ist Vorbild für alle Glaubenden. Sie ist gestorben, wie jeder Mensch, und sie ist von ihrem Sohn aufgenommen worden ist den Himmel, wie Christen dies für die Zukunft erwarten.