Timmerevers: Man kann sich den Gottesdienstbesuch schnell abgewöhnen
Ein halbes Jahr lang lebt Deutschland schon mit Corona-Beschränkungen. Auch für das kirchliche Leben bedeuten sie gravierende Veränderungen, die trotz Lockerungen weiter anhalten. Im Interview spricht der Bischof von Dresden-Meißen, Heinrich Timmerevers, über Auswirkungen, Erkenntnisse, Befürchtungen und Überlegungen für ein Weihnachten unter Pandemie-Bedingungen.
Frage: Herr Bischof, seit März hat die Pandemie Deutschland nun schon im Griff – was hat es mit Ihnen inzwischen gemacht?
Timmerevers: In der Krise nimmt man sich und sein Leben mehr in den Blick: Was trägt, was gibt Halt? Ich persönlich habe viel darüber nachgedacht, wie ich mit Zeit umgehe. Wofür nehme ich mir Zeit? Eine Erkenntnis: Ich will mir mehr Zeit für Einzelbegegnungen und Gespräche nehmen. Ich nehme wahr, dass die Menschen sich sehr nach Seelsorgern sehnen, die sich Zeit nehmen und sich ihnen zuwenden.
Frage: Welche dauerhaften Veränderungen bringt Corona für das kirchliche Leben?
Timmerevers: Die Pandemie hat mir vor Augen geführt, dass wir in einigen Dingen vor allem entschleunigen und wesentlicher werden müssen. Das betrifft zum einen die vielen Sitzungen und Konferenzen, auf der Ebene des Bistums und der Bischofskonferenz. Da müssen wir uns neu fragen, wie wir sinnvoll arbeiten. Vielleicht müssen wir uns auch verschlanken und in vielen Punkten bescheidener werden.
Frage: Denken Sie nicht, dass schnell alles wieder beim Alten ist, wenn irgendwann ein normaler Alltag zurückkehrt?
Timmerevers: Das ist meine Befürchtung. Ich nehme in den Pfarreien und bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durchaus eine Tendenz war, dass man dorthin zurück will, wo wir vor Corona aufgehört haben. Das ist so ein geträumter Idealzustand. Aber ich frage mich, ob das wirklich so sein muss. Mit Beginn der Pandemie sind auch viele neue, erhaltenswerte Formen entstanden, Seelsorge zu organisieren. Die Aufgabe bleibt aber, wieder Begegnungen von Jugend bis Senioren zu ermöglichen, damit nicht alles abbricht. Jede Gemeinschaft lebt davon, dass man sich trifft und zusammenkommt.
Frage: Gottesdienste sind wieder erlaubt, doch die Leute kommen längst nicht alle zurück. Haben Sie eine Idee, wo die Kirche diese Menschen wieder abholen kann?
Timmerevers: Das ist eine sehr nüchterne Erkenntnis, dass da etwas weggebrochen ist. Man kann sich schnell daran gewöhnen, nicht mehr zum Gottesdienst zu gehen. Für mich ist da die Frage: Welche Relevanz haben der christliche Glaube, unsere Botschaft, unsere Gottesdienste für das reale Leben? Geben wir mit dem, was wir feiern, eine Antwort auf die Fragen der Menschen?
Frage: Offenbar nicht, wenn man die noch leereren Kirchen sieht. Wirkte Corona wie ein Katalysator auf die Kirchenbindung?
Timmerevers: Zweifelsohne hat Corona einiges beschleunigt. Das ist wahrnehmbar. Zugleich gewann anderes an Bedeutung: Die Hauskirche etwa oder Familien, die sich zum Gebet zusammengefunden und sich an den Streaming-Gottesdiensten beteiligt haben. Das haben viele als sehr positiv empfunden, auch mal selbst den eigenen Glauben in der Familie ins Wort zu bringen und ihn zu feiern. Das sollten wir weiter stärken.
Frage: Streaming-Gottesdienste haben in den vergangenen Monaten einen Boom erlebt. Wo sind Ihre Grenzen?
Timmerevers: Es gab viele kreative, gute Angebote, aber es gab auch das Gegenteil. Wir im Bistum haben die Streaming-Gottesdienste jetzt erstmal wieder sehr eingegrenzt. Es mag einzelne Situationen geben, wo es sinnvoll ist. Aber es sollte nicht mehr die Regel sein. Streaming war ein Behelfsinstrument in der Not. Aber wir können als Kirche nicht leben, wenn wir uns nicht auch physisch als Gemeinschaft erfahren. Die Atmosphäre des Miteinanders in einem Raum ist einfach eine ganz andere und tiefere.
Frage: Es gab auch deutliche Kritik am Handeln der Kirchen in der Krise. Inwieweit evaluiert Ihr Bistum das eigene Handeln in den vergangenen Monaten?
Timmerevers: An dem Punkt sind wir noch nicht. Wir haben uns im Lockdown wirklich bemüht, bei den Menschen zu sein. Es gab auch viel Verständnis bei den Landesregierungen, dass wir Wert darauf gelegt haben, etwa die Seelsorge in Krankenhäusern und Altenheimen weiterzuführen. Natürlich waren unter den Seelsorgern auch solche, denen Corona Angst gemacht hat und die sich zurückgezogen haben. Das kann ich auch nachvollziehen.
Frage: Womit haben sich die Menschen in der Corona-Krise an Sie gewendet?
Timmerevers: Was ich am häufigsten gehört habe: "Wir können nicht mehr zusammenkommen und miteinander Gottesdienst feiern. Das ist schrecklich." Zugleich haben mir bei den ersten Lockerungen Menschen gesagt: "Sie machen sich mitverantwortlich am Tod von Menschen, wenn Sie jetzt zu großzügig alles wieder öffnen. Sie bringen uns in Gefahr." Und wieder ein anderes Votum: "Sie haben ja überhaupt kein Gottvertrauen!"
Frage: Vergangenes Ostern fiel in den Lockdown. Was ist nun mit Weihnachten? Die gegenwärtigen Corona-Einschränkungen werden dann vermutlich weiter gelten. Was heißt das für die Festgottesdienste? Planen Sie schon?
Timmerevers: Das stellt uns im Augenblick vor große Fragen. Es ist in der Tat eine enorme Herausforderung, wie wir die Weihnachtsgottesdienste dieses Jahr meistern. Wir haben in unserer Pastoralabteilung bereits darüber beraten. Im Grunde wird es darauf hinauslaufen, dass wir den Pfarreien sagen: Sucht vor Ort nach Möglichkeiten im Rahmen des Hygienekonzeptes.
Da gibt es unterschiedliche Überlegungen, etwa die Weihnachtsgottesdienste in Stadien abzuhalten. Weihnachten ist eben das Fest, an dem viele Menschen dann doch in die Kirche gehen. Wir haben aber im Bistum nur wenige große Kirchen. Insofern werden wir wohl auch außerhalb der Gebäude Gottesdienste feiern müssen. Da ist noch viel Kreativität vor Ort gefragt.